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Die „Chowanschtschina“ von Mussorgski an der Staatsoper Unter den Linden

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Macht, Religion und Volkswillen Unter den Linden: Claus Guth inszeniert das geschichtlich-theologische Oratorium, das derzeit immer beliebter wird. Nicht länger steht das symphonisch durchkomponierte Seelendrama im Schatten von Mussorgskis politischer Tragödie Boris Godunow. Die Komplexität seiner Gedankengänge und die Schönheit und Vielschichtigkeit der Musik begeistern jetzt auch das Berliner Publikum. Barbara Hoppe und Stephan Reimertz.

Mit der Neuinszenierung von Modest Mussorgskis Oper Chowanschtschina im Juni in der Staatsoper Unter den Linden taucht das Publikum ein in die turbulente Welt des Russland des XVII. Jahrhunderts. Das Werk, voller politischer Intrigen, religiöser Spannungen und volkstümlicher Bräuche, bietet dem Regisseur Claus Guth und der Kapellmeisterin Simone Young das ideale Terrain für eine facettenreiche Inszenierung. Doch der Abend ist vor allem der Triumph der Kostümbildnerin.

Die Altgläubigen

Die Chowanschtschina (wörtlich: »Die Chowanschtschin-Chose«) spielt im später XVII. Jahrhundert, einer Zeit des Umbruchs in Russland. Die Macht des Zaren schwankt, rivalisierende Adelsfamilien kämpfen um die Vorherrschaft, und religiöse Spaltungen zerreißen das Land. Die konservativen Altgläubigen stehen im Konflikt mit den Reformern. Man könnte es mit dem II. Vatikanischen Konzil vergleichen, als in den frühen 1960er Jahren die katholische Kirche in einem Versuch von »aggiornamento« den alten Ritus neu strukturierte, die lateinische Messe durch die Landessprachen ersetzte, die barocken Messgewänder durch neo-mittelalterliche usw. In diesem explosiven Klima entspinnt sich ein Netz aus Verschwörungen, Verrat und blutigen Machtkämpfen.

Vielfalt, Kraft und Originalität

Claus Guth inszeniert Chowanschtschina als opulenten Historienthriller, der die düstere Atmosphäre des Stücks einfängt. Die Bühne ist Schauplatz eines wimmelnden Treibens von Adligen, Bauern, Priestern und Soldaten. Guth gelingt es, die verschiedenen sozialen Gruppen und ihre jeweiligen Interessen plastisch darzustellen und die brodelnde Spannung im Land auf die Bühne zu übertragen. Immer wieder neue choreographische Konstellationen auf der Bühne entsprechen der überraschenden, sich stetig neuschaffenden Natur dieser Musik. Mussorgskis Partitur zeichnet sich durch Kraft und Intensität ebenso aus wie durch melodische und harmonische Originalität. Der Komponist verwendet Volksmelodien, religiöse Gesänge und ungewöhnliche Klangfarben, um die unterschiedlichen Stimmungen und Emotionen der Geschichte zu evozieren. Dabei verleugnet Mussorkskij keineswegs, dass er Zeitgenosse von Tschaikowski, Grieg und Wagner ist. Simone Young dirigiert das Staatsorchester Unter den Linden mit Leidenschaft und Präzision. Das Orchester setzt die komplexen Partitur mit Bravour um und verwirklicht jene suggestiven Klänge, die aus der von Rimskij-Korsakow, Stranwinskij und Schostakowitsch bearbeiteten Partitur von Modest Mussorgski aufsteigen.

Die ideale Kapellmeisterin

Simone Young begeistert mit ihrem Dirigat, das von Kritikern und Publikum gleichermaßen gelobt wurde. Die Berliner Zeitung beschrieb ihre Leitung als »souverän« und »mitreißend«, während der Tagesspiegel zurecht ihre »genaue Kenntnis der Partitur« und ihre Fähigkeit lobte, »die komplexen musikalischen Strukturen zu durchdringen«. Youngs Interpretation der Chowanschtschina zeichnet sich durch ihre besondere Aufmerksamkeit für die Nuancen der Musik und ihre Fähigkeit aus, die dramatische Spannung des Werks aufrechtzuerhalten. Sie hebt die kraftvollen Chorszenen heraus und eröffnet daneben Momente großer Zärtlichkeit und Intimität.

Exzellente Solisten

Die Sängerdarsteller profitieren von Youngs Leitung und zeigen eine Reihe herausragender Darbietungen. Mika Kares hat Gestalt und Stimme für die Rolle des Fürsten Iwan Chowanskij; der Bassist beeindruckte das Publikum und kam, ebenso wie Tenor Najmiddin Mawlianow als sein Sohn Andrej, besonders gut an. Sängerisch und darstellerisch stark sind auch die beiden weiblichen Hauptrollen besetzt: Marina Prundeskaja als verführerische und auftrumpfende Marfa und Evelin Novak als bescheidene Emma stellen einen fasslichen Kontrast zu einander wie auch gemeinsam zu den Herren dar.

Wieviel Video tut gut?

Die Inszenierung nutzt moderne Bühnentechnik. So werden beispielsweise Bildeinblendungen und Videoeinspielungen verwendet, um historische Schauplätze zu zeigen. Allerdings wird es mit den zahlreichen historischen Bildverweisen schnell zuviel, zudem suggeriert ein Mischmasch von Einspielungen von Filmszenen aus alten Eisenstein-Historienstreifen und Gewaltexzessen aus der Breschnew-Zeit, die russische Geschichte sei vor allem von Gewalt geprägt.

Kaum eine andere Oper zeigt wie diese die unterschwellige und tiefe Verbundenheit von Russland und Deutschland; obgleich Mussorgski den Parsifal ebensowenig gekannt hat wie Wagner die Chowanschtschina, bestehen frappierende Konsonanzen dieser beiden gleichzeitig geschaffenen Werke. Star des Abends freilich ist Kostümbildnerin Ursula Kudrna: Die Vielfalt und Schönheit ihrer Kostüme entsprechen dem Reichtum der Folklore der Völker des russischen Reiches. Der Chor der Staatsoper Unter den Linden singt mit großer Präsenz und Leidenschaft und trägt zum geistlichen Ausloten des Werkes bei.

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