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Turmmusik und Barocktrompeten in Danzig

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In einer musikalischen Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart widmet sich das Ensemble Tubicinatores Gedanenses der Wiederentdeckung und lebendigen Neuinterpretation barocker Turmmusik. Im folgenden Interview gewährt der Leiter des Ensembles Paweł Hulisz: faszinierende Einblicke in die historischen Hintergründe ihrer Arbeit, die Wahl ungewöhnlicher Instrumentierungen und die Magie der Naturtrompete. Die Fragen stellte Barbara Hoppe.

Turmmusik: Klangräume statt Konvention

Feuilletonscout: Sie haben leidenschaftlich längst vergessene Werke wiederentdeckt, darunter eine Opernarie von Johann Valentin Meder sowie Kirchensonaten von Umstatt und Prustmann. Wie sind Sie auf diese musikalischen Schätze gestoßen und weshalb haben Sie sie für Ihr Album ausgewählt?
Paweł Hulisz: Ich lebe und arbeite seit vielen Jahren in Danzig. Zwischen 1687 und 1699 bekleidete Johann Valentin Meder die angesehenste musikalische Position der Stadt – als Kapellmeister des Ratsensembles der Stadt Danzig. Einige seiner Werke sind in der Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Danzig erhalten. Meder gilt außerdem als einer der ersten Komponisten, die Opern in deutscher Sprache geschrieben haben. Leider ist nur ein vollständiges Werk überliefert: Die beständige Argenia.
Obwohl Trompeten ursprünglich nicht in der Besetzung vorgesehen waren, erlaubt Meder ihren Einsatz im vierten Akt, der musikalisch die Schlacht zwischen Dänemark und Schweden bei Lund im Jahr 1676 schildert. Das inspirierte mich dazu, einige Ausschnitte für unser Trompetenensemble zu arrangieren, begleitet von einem Streichorchester.
Was Umstatt und Prustmann betrifft – ihre Musik wurde uns durch unseren Freund Arne Thielemann aus Deutschland nahegebracht. Er stellte uns diese bisher unveröffentlichten Werke vor und schlug vor, sie aufzunehmen. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, empfehle aber allen unser Booklet, in dem Arne spannende Einblicke in ihre Musik bietet.

Feuilletonscout: Naturtrompeten (Posaunen gehören nicht zu Ihrem Ensemble) und Pauken prägen den Klang Ihrer Aufnahme. Was waren Ihre künstlerischen Ziele mit dieser seltenen Besetzung?
Paweł Hulisz: Meine Faszination für historische Aufführungspraxis begann während meines Studiums in Danzig. Damals spielte ich viel Alte Musik auf einer modernen Piccolotrompete. Doch ich erkannte schnell, dass dies nur eine schwache Nachahmung des Klangs und Stils war, den ich eigentlich erreichen wollte.
In den frühen 2000er-Jahren eröffnete sich endlich die Möglichkeit, in Polen Naturtrompete zu studieren – und damit begann meine Reise in die historisch informierte Aufführungspraxis.
Bei einem Projekt wie diesem Album versuche ich vor allem, einen historischen Raum zu finden, der eine Vorstellung davon vermittelt, wie diese Instrumente damals geklungen haben könnten. Unsere früheren Alben nahmen wir in historischen Kirchen Danzigs auf – in der Katharinenkirche und der Dreifaltigkeitskirche. Diesmal wählten wir den Konzertsaal Niebo Polskie, der zwar weniger historisch (frühes 20. Jahrhundert), aber akustisch hervorragend ist. Die Wahl des Aufnahmeortes spielt eine große Rolle im Postproduktionsprozess und verringert den Bedarf an digitaler Nachbearbeitung – was die Aufnahme natürlicher wirken lässt.

Stimme Gottes

Feuilletonscout: Was fasziniert Sie persönlich an der Naturtrompete und worin unterscheidet sich das Spiel im Vergleich zur modernen Trompete?
Paweł Hulisz: Der Unterschied ist grundlegend. Die Naturtrompete besitzt keine Ventile – dieses Mechanismus wurde erst in den 1840er-Jahren eingeführt. Klangproduktion, Artikulation und Phrasierung unterscheiden sich vollständig. Man könnte sagen, es handelt sich um zwei völlig verschiedene Instrumente – wie ein Dackel und ein Deutscher Schäferhund: beide sind Hunde, aber völlig unterschiedlich in Form und Funktion.
Trotz ihrer baulichen Einschränkungen ist die Naturtrompete ein außergewöhnliches Instrument – im Barock galt sie als „Stimme Gottes“. Sie verlangt enorme Fähigkeiten und Ausdauer von heutigen Spielern, belohnt aber mit einem einzigartig schönen Klang und großer künstlerischer Erfüllung.

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Stadtgeschichte in Tönen

Feuilletonscout: Als einziges Ensemble in Polen, das historische Turmmusik aufführt, spielen Sie auf Original- oder rekonstruierten Instrumenten an Orten wie Kirchtürmen. Welche Rolle spielt die Raumakustik für das Hörerlebnis Ihres Albums?
Paweł Hulisz: Seit über zehn Jahren tritt Tubicinatores Gedanenses von den Türmen Danzigs aus auf, um die einst beliebte Kunst der Turmmusik wiederzubeleben. Trompeten waren bis ins frühe 20. Jahrhundert ein essenzieller Bestandteil des urbanen Klangbilds – und in einigen Städten sind sie es heute noch im Rahmen von Tourismus und kulturellen Traditionen.
Seit dem Mittelalter unterhielten viele wohlhabende Städte unter königlichen oder kaiserlichen Edikten offizielle Turmtrompeter, die den Alltag mit Musik von oben regelten. In Danzig reichen die Aufzeichnungen über Turmtrompeter bis um das Jahr 1400 zurück. Im 17. Jahrhundert existierten sogar drei Trompeter-Gilden: Turm-, Feld- und Stadtratsensemble-Spieler. Das zeigt den einstigen Reichtum Danzigs – Trompeten waren teuer und aufwendig in der Herstellung.
Unsere früheren Alben, Tubicinatores Gedanenses (2016) und Turmmusik (2019), enthalten historisch aufgeführtes Repertoire aus Danzig, von einfachen Signalen bis hin zu komplexen Chorälen für bürgerliche und zeremonielle Anlässe.
Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der Musik unseres neuesten Albums funktional ist – Kirchensonaten, die während Gottesdiensten in Kapellen des kaiserlichen Wiens und anderer habsburgischer Orte gespielt wurden. Trotz ihres liturgischen Zwecks sind es echte Barockjuwelen. Und nicht vergessen: Die meisten Barockkomponisten arbeiteten auf Bestellung – wie Bach, Händel oder Telemann.

Barock ohne Barrieren

Feuilletonscout: Wie machen Sie Alte Musik für heutige Zuhörer lebendig – was ist Ihr Geheimnis, um barocke Musik frisch und relevant wirken zu lassen?
Paweł Hulisz: Ich glaube, Alte Musik spricht moderne Zuhörer aus mehreren Gründen an.
Erstens: die Instrumente selbst – Menschen sind von Natur aus neugierig auf Instrumente, die heute nicht mehr alltäglich sind.
Zweitens: der Klang eines Barockorchesters, das auf niedrigerer Stimmung spielt (415 Hz statt 440 Hz), erzeugt einen dunkleren, weicheren Ton, der angenehmer für das Ohr ist – auch in hohen Lagen oder bei lauter Dynamik.
Drittens: Alte Musik ist weniger formell als klassische Symphoniekonzerte – keine Fracks, Marmorsäle oder übertrieben feierliche Rituale. Obwohl diese Musik einst für Könige und Adlige gespielt wurde, besitzt sie eine kammermusikalische Intimität und eine direkte Verbindung zum Publikum.

Historie mit Haltung

Feuilletonscout: Wie beeinflusst Ihre musikwissenschaftliche Forschung Ihr Verständnis dieser Werke – und welche Auswirkungen hat das auf Ihre interpretatorischen Entscheidungen?
Paweł Hulisz: Das Verständnis des Kontextes – für wen und unter welchen Umständen ein Werk geschrieben wurde – ist natürlich wichtig. Trotzdem ist mein Hauptziel, dass die Musik einfach schön klingt.
Wir bemühen uns, stilgerecht zu spielen, richtig zu phrasieren und barocke Rhetorik anzuwenden (etwa die Affektenlehre). Aber letztlich hängt es von den Erwartungen der Zuhörer ab – sie werden unsere Interpretation schätzen, wenn sie sie emotional berührt.
Ich persönlich bin begeistert, dass unsere Konzerte helfen, das Image der Trompete als bloß lautes Instrument zu revidieren. Eine zentrale Mission unseres Trompeten-Pauken-Ensembles ist es, die Trompete als musikalische Stimme neu zu positionieren – nicht bloß als Lärmquelle.

Turmmusik: Reminiszenz an die Vergangenheit

Feuilletonscout: Turmmusik war einst ein zentrales Kommunikationsmittel in Städten wie Danzig und Wien. Welche gesellschaftliche Bedeutung messen Sie ihr heute bei – und sehen Sie eine Zukunft für diese Tradition im 21. Jahrhundert, über den historischen Kontext hinaus?
Paweł Hulisz: Leider leiden moderne Städte unter enormer akustischer Verschmutzung. Große urbane Räume sind unglaublich laut. Früher waren Trompetensignale von Türmen in ganzen Städten hörbar – heute tragen sie kaum über die Turmbasis hinaus.
Ein faszinierender Moment war während der Corona-Lockdowns: mit weniger Verkehr bekamen wir eine Vorstellung davon, wie still unsere Welt sein könnte. Das ermöglichte uns, die akustischen Bedingungen früherer Turmmusiker besser zu verstehen.
Heute dient unser Spiel vor allem der Bewahrung von Tradition und als kulturelle Attraktion. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Turmmusik einst das städtische und höfische Leben aktiv strukturierte. Mein Wunsch ist, dass wir trotz aller zivilisatorischen Fortschritte die Ursprünge – und die Zeiten – nicht vergessen, die die Trompete zu einem so bemerkenswerten und edlen Instrument gemacht haben.

Vielen Dank für das Gespräch, Paweł Hulisz!

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Was die CD hörenswert macht:

  • Wiederentdeckte Werke europäischer Komponisten
  • Historische Klangräume mit Naturtrompeten
  • Musikwissenschaftlich fundierte Interpretation

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

Tower music and baroque trumpets in Gdańsk

Paweł Hulisz and his ensemble Tubicinatores Gedanenses revive forgotten works such as Meder’s aria and church sonatas by Umstatt and Prustmann. Rooted in Gdańsk’s musical history, these compositions reflect a rich European heritage. Meder’s Die beständige Argenia inspired arrangements for trumpet and strings.

Natural trumpets are central to the album’s sound. Valve-free and demanding, they offer a distinctive Baroque tone. The recording took place at the acoustically refined Niebo Polskie concert hall, delivering an authentic sound. Performing from church towers, the ensemble reconstructs Gdańsk’s tradition of tower music. The fusion of historic performance, acoustics, and scholarship makes this project stand out.

Their goal: make early music resonate with today’s listeners—through rare instruments, contextual insight, and fresh interpretation. Tower music becomes a cultural echo in the modern city.

1 Gedanke zu „Turmmusik und Barocktrompeten in Danzig“

  1. Pingback: Der Podcast am Sonntag: „Musica instsrumentalis“ |

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