Seit der Spielzeit 2012/2013 ist Karl Alfred Schreiner künstlerischer Leiter des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Kürzlich berichteten wir von seinem neuesten Werk, Undine. Jetzt beweist das zweitägige Ballettfestival Sparks: Die Tänzer am Gärtnerplatz sind weit mehr als ein Ballettensemble. Sie sind ein Think Tank des zeitgenössischen Tanztheaters. Von Stephan Reimertz.
Ein Choreograph, der nicht Tänzer war, ist schwer vorstellbar. Von den zwanzig Tänzern des Ensembles am Gärtnerplatz sind gar vierzehn Choreographen. Die dreizehn Arbeiten, die sie jetzt vorstellten – leider im »Kulturzentrum Gasteig«, Münchens hässlichstem Gebäude – geben nicht nur ein Resümee heutigen Tanztheaters, sondern vor allem eine Momentaufnahme des Lebensgefühls der Generationen Y und Z. Es ist unmöglich, diese so vielfältigen Ansätze und Durchführungen des Tanztheaters mit Ballettelementen auf einen Nenner zu bringen. Allein drei Momente fielen doch ins Auge:
1.) Die jungen Leute haben offenbar Schwierigkeiten mit dem Alleinsein. Auch der Pas de Deux macht sich besser als Pas de Trois und erinnert daran, wie Zweierbeziehungen zu dritt am besten funktionieren. Am liebsten freilich sind sie in der Gruppe. Sie kleben unglaublich an ihren Beziehungskisten und in ihrem Alltag fest. Die aber ist ihnen oft selbst klar, dann schwingen sie sich in imaginäre Welten hispanischer, informatischer oder in jene zeitlosen Traumwelten auf, welche die Jugend verewigen wollen und die wir aus den Bildern von Simon Pasieka kennen.
2.) Die jungen Leute haben schwer am Erbe von William Forsythe und seiner Schüler zu knabbern. So gemahnte die Veranstaltung nicht selten an Forsythes Anfänge in Frankfurt und an seine Schüler wie Amanda Miller. Junge Choreographie heute befindet sich noch tief in stilistischen Verdauungsprozessen. Doch unter den Flügeln des traditionellen Modernismus regen sich schon die Ansätze einer neuen Zeit.
3.) Obgleich es sich bei Tänzern, die in den achtziger oder neunziger Jahren geboren sind, mitnichten um Menschen handelt, die von den GIs von einfahrenden Jeeps hinunter ihre erste Schokolade und ihre ersten Kaugummis bekommen haben, hängen die meisten in einem unbegreiflichen Amerikanismus fest. Seit dreißig Jahren bekommen wir zum modernen Tanztheater nun die Tonspur des Sprachlabors »Englisch für Anfänger« serviert. Das ganze Programm inkl. aller Stücktitel war auf Simple-English. Es reicht!
Bei allen Auf- und Ausbruchsversuchen, bei aller choreographischer und dramaturgischer Vielfalt der dreizehn Kurzballette, die uns in München gezeigt werden, fällt auf, diese Generation köchelt doch etwas im eigenen Saft. Es ist natürlich alles ganz wunderbar gedacht und getanzt. Allein Revolutionen auf dem Gebiet des Musiktheaters gelingen dann – und das zeigt sich insbesondere auch im Gebiet der Oper – wenn das Wort Revolution ernstgenommen wird. Es kommt von revolvere – zurückrollen. So wie die Opernreformen Monteverdis, Glucks und Wagners ohne den Rückgriff auf die griechische Antike undenkbar wären, gilt das nicht minder für die grundsätzliche Neuorientierung des modernen Balletts im Klassizismus von Nijinskij und Balanchine. Der Choreograph von morgen ist gut beraten, antike und vor-antike Tanzformen ebenso intensiv zu studieren wie rand- und außereuropäische.
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