Leopold von Herzfeld löst seinen ersten Fall. Ingobert Walthenberger hat den Auftakt dieser neuen Krimireihe gelesen.
Mei Bluat is so lüftig und leicht wie der Wind, i bin halt a echt‘s Weanerkind
Beim Stichwort historische Krimis fallen mir sofort Robert van Gulik und Claude Izner ein. Der eine schrieb Romane über den Richter Di im China des siebenten Jahrhunderts, der andere schickte die neugierigen und sympathischen Bücherhändler Victor Legris und Joseph Pignot auf Verbrecherjagd. Jetzt ist der Grazer Untersuchungsrichter Leopold von Herzfeldt dran, der als junger Inspektor in Wien hilft, in einer ganz grauslichen Mordserie zu ermitteln.
Von gepfählten Leichen und antisemitischen Kollegen
Im Wiener Prater wird eine junge Frau mit brutal durchgeschnittener Kehle und einem spitz zugeschnitzten Pfahl aus Weißdornholz durch die Vagina bis zum Hals hinaufgebohrt – der wiederum mit der Aufschrift Domine salve me versehen ist – aufgefunden. Paul Leinkirchner, glatziger Antisemit mit Schmiss an der Wange und Erich Loibl, zaundürr mit Walrossschnauzer, sind bereits vor Ort, als ein junger Piefke-Schnösel mit Kamera und allem anderen neumodischen Kriminalistik-Krimskrams auftaucht und sich als Neuer auch gleich obergescheit zu schaffen macht. Das ist unser Leopold von Herzfeldt, der sogar vor dem offiziellen Dienstantritt am Montag sich schon sonntags wichtig machen muss. Kein guter Start bei der Wiener Polizei, die noch dazu einen, der hochdeutsch spricht, so gar nicht leiden kann. Der besagte Leopold stammt aus einem reichen jüdischen Bankiershaus, die Mutter ist eine Hannoveranerin und sein Mentor, der Grazer Staatsanwalt Hans Gross, will die Polizeiarbeit revolutionieren.
Wien gleicht einer giftigen Suppe, die jederzeit überkochen kann
Wien um die Jahrhundertwende ist eine bis zum Bersten volle Stadt, eine „giftige Suppe, die jederzeit überkochen“ kann. Technische Neuerungen wie das Telefon, Automobil, Elektrizität, die Fotografie und das Kino bedeuten eine echte Zeitenwende, und das in einer Rasanz, die so manche Zeitgenossen heillos überfordert. Oliver Pötzsch ist es daran gelegen, mit seinem Buch eine ähnliche Epoche des Umbruchs zu beschwören, wie wir sie heute erleben. Wie Recht er doch hat, wenn er konstatiert, dass man eben noch gemächlich mit der Kutsche oder der Dampflokomotive durch die Heide fuhr, und ein paar Jahre später rasen Menschen mit knatternden Autos zum Kino, vorbei an elektrischer Beleuchtung, begleitet vom blechernen Klang der Grammophone und dem Klingeln der Telefone, überall ein Blinken, Röhren, Tuten, Bimmeln, Rattern.
Mit der Kriminalistik ist eine neue Wissenschaft im Entstehen
Die Neuerungen umfassten natürlich auch die Ermittlungsmethoden der Polizei. 1879 entwickelte der ehemalige Hilfsarbeiter Alphonse Bertillon ein Karteisystem zur Identifizierung von Verbrechern, Francis Galton hatte die glorreiche Idee, Fingerabdrücke von Verdächtigen zu sammeln. Die Naturwissenschaften spielen beim Gangsteraufspüren fortan eine ebenso große Rolle wie der gute Riecher der erfahrenen Kommissare.
Ein Mozart summender Totengräber, der mit Leichen spricht
Unser Leopold von Herzfeldt ist so ein aufgeschlossener Junger, der die Zukunft und nichts als die Zukunft im Blick hat. Ein wenig patschert geht er die Sache an. Wäre da nicht der Totengräber Augustin Rothmayer, einer der mit lehmigen Stiefeln blass wie der Tod, breitkrempigem Hut und wehendem Cape durch die Gegend huscht, aber auch Mozart und Schubert auf der Geige spielen kann. Leopold würde ohne den nervenden Freund wohl bald wieder in Graz landen, wo er herkam. Aber nicht mehr zurückkann. Ein dunkles Geheimnis trieb ihn nach Wien. Ein traumatisches Duell hat die Ehre seiner Familie befleckt. Aber auch unser musikalischer Totengräber hat sein Geheimnis….
Apropos Musik: Der Schani Strauss und seine Frau spielen ebenso eine Rolle im Krimi, besser gesagt sein Halbbruder Bernhard Strauss (ist vom Autor erfunden), der angeblich Selbstmord beging und vorher behauptete, sein Bruder hätte ihm die Melodie zum Donauwalzer gestohlen. (Anmerkung: Historisch gesichert ist aber das Verhältnis von Johann Strauss Vater mit der Putzmacherin Emilie Trampusch, mit der er acht uneheliche Kinder hatte). Der Strauss und Wien, tja. Die Frage muss wohl erlaubt sein, warum der Polizeipräsident immer einen Platz in der Oper hat?
Die Angst lebendig begraben zu werden, war nicht nur damals groß
Furchtbar, dass der Bernhard offenbar gar nicht mausetot war, als er in den Sarg verfrachtet wurde. Als Scheintoter wachte er nämlich im fest vernagelten Sarg auf und zerkratzte sich Gesicht und zerfleischte sich die Fingerkuppen am Holz.
Schwarzer Walzer
Plötzlich gehrt es nicht nur um Morde an jungen Frauen. Übrigens vier sollen es werden. Ist da ein Serienmörder, ein Wiener Jack the Ripper am Werk? Nach und nach erfahren wir von einem Ring an mächtigen, einflussreichen Pädophilen, die sich in speziell in Zeitungen angekündigten Parties an 10-13-jährigen Mädchen bei Zigarren, Wein und Walzermusik vergreifen. Hat da wirklich eine solche Fête im Palais des Erzherzogs Ludwig Viktor, dem feinen Luziwzi, wie die Welt ihn nennt, stattgefunden? Auf jeden Fall ist er der jüngste Bruder des Kaisers Franz Joseph I.
Wie hängt das alles zusammen?
Ein Sittenbild ersteht, je weiter man in das Dickicht aus Personen, ihren biographischen Spuren, Geheimnissen und Leidenschaften auf die Spur kommt. Pötzsch entrollt sich wie bei einem Gobelin ganz langsam vor unseren Augen ein Panorama an Charakteren und Beziehungen, sodass einer aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommt. Leichenfledderer konnten für ein paar Kreuzer an die Pathologie verhökern, die Telefonistin im Sicherheitsbüro, Julia Wolf, arbeitete nebstbei in der Nacht als Tangotänzerin in einer Kellerkaschemme in Neulerchenfeld und wohnt im Puff „Zum Blauen Dragoner“ bei der Fetten Elli.
Der Tod stirbt nie – der Wiener Zentralfriedhof als eigentlicher Held des Romans
Ein großes Atout des Romans ist die farbige und bilderreiche Beschreibung des genius loci, und hier wiederum trägt der Wiener Zentralfriedhof, der zu den größten in Europa gehört, die Fahne. Die Friedhöfe wurden ab Ende des 18. Jahrhunderts – um die Seuchengefahr zu bannen – an die Stadtränder gedrängt. Dort schalteten und walteten Totengräberdynastien wie die Rothmayers. Auf den Friedhöfen begegnen wir vermeintlichen Untoten und Vampiren, wir hören vom Kauen und Schmatzen der Toten in den Gräbern.
Almanach für Totengräber
Derart Erbauliches findet sich in Augustin Rothmayers „Almanach für Totengräber“, aus dem genüsslich zitiert wird: „Eine der häufigsten Todesursachen ist die Schwindsucht. Am Ende ist von einem schönen jungen Mädchen oder einem stolzen, kecken Knaben nur noch eine ausgezehrte Hülle übrig. Wen wundert es, dass viele Leute glauben, ein Vampir habe diese Menschen ausgesaugt. Noch heute werden deshalb die Leichen Schwindsüchtiger gelegentlich geschändet: Kopf und Herz werden entfernt, die Beinknochen mehrfach gebrochen, damit der vermeintliche Vampir nicht mehr laufen kann.“ Wer wissen will, welch andere Methoden es gibt, um mit Vampiren oder Wiedergängern umzugehen, dem seien die Seiten 171 und 173 des Krimis anempfohlen.
Wer da noch so auftaucht in dieser Weanastadt
Natürlich dürfen wir nichts verraten über das, worauf es im Krimi dann am End‘ ankommt. Nur so viel: Das Knäuel soll immer vom offenen Ende her aufgerollt werden. Wir wollen daher nur noch ein bissl was vom Personal des Stücks vor den Vorhang bitten. Als da wären:
Moritz Stukart, Vize-Chef im Sicherheitsbüro: Gezwirbelter Schnauzer, klein, schmal. „Gäbe es einen Wettbewerb für das Aussehen des perfekten Amtsschimmels, Stukart wäre ganz vorne dabei.“
„Papa“ Stehling: Der Chef, der eher wie ein alter Haflinger aussieht. Zigarrenrauchend thront er in seinem Büro, das einem Kriminalmuseum gleicht. Der Aschenbecher ist ein Stück einer Schädeldecke eines hingerichteten Mörders, ein Relikt aus der Asservatenkammer.
Andreas Jost, ein unter der Fuchtel seiner Mutter stehender Azubi und Fahrradler, mit dem Leopold sich das Büro teilt.
Prof. Eduard Ritter von Hofmann vom gerichtsmedizinischen Institut: Er seziert die blondlockigen Opfer mit den von einem scharfen Rasiermesser bis zur Wirbelsäule durchschnittenen Kehlen. Er findet bei B. Strauss Morphium und einen mit Hollersaft aufgemalten Strangulationsring.
Das Waisenkind Anna, das sich vor nichts mehr fürchtet als vor dem Walzer mit dem Strophentext „Mei, des Diandl so schee, leg‘s glei aufs Kanapee.“ Den Teufel mit der Geige fürchtet auch eine fauchende Katze. Annas Mutter wurde von einer Droschke überfahren, sie war sofort tot. Ein trauriger Unfall auf den Wiener Straßen, wie er öfter vorkommt. Der Kutscher wurde nie ermittelt.
A schöne Leich‘
Na ja und dann sollte der Leser wissen, was eine schöne Leich ist: In Wien ist das eine stilvolle würdige Beerdigung mit vielen Trauergästen und reichhaltiger Verköstigung. Allerdings tröstet eine schöne Leich‘ nur wenig, wenn man selbst der Tote ist.
Alles schürzt sich zu einem fulminanten Ende zu Allerseelen, dem Tag, an dem nicht nur der Zentralfriedhof vor Lebenden aus allen Nähten platzt, als ob das schlechte Gewissen sie plagte.
Lohnt sich die Lektüre?
Oliver Pötzsch hat einen schönen spannenden Wien-Krimi mit einem behäbigen Start geschrieben. Es ist kein Literaturkrimi, dazu ist die Sprache zu nüchtern im Alltag verhaftet. Allerdings ist positiv zu vermerken, dass das Wienerische, dem Kaiser sei es gedankt, sporadisch und dann meist exakt eingesetzt wird. Ein gewaltiger Schnitzer findet sich allerdings auf Seite 117: Ein Wiener würde NIE „leckere“ Surstelze sagen. Lecker gilt in Wien als Unwort. Ansonsten hat Oliver Pötzsch gut recherchiert. Als Orientierung diente u.a. der Zeitreiseführer in die k.u.k. Monarchie von Anton Holzer, „Ganz Wien in 7 Tagen.“
Der Handlungsfaden oder besser gesagt, die sich nach und nach herauskristallisierenden Stränge, wollen sich erst spät entwirren, bisweilen verliert sich Pötzsch in Details etwa der eigenartigen Beziehung zwischen Leopold und Julia oder in allzu wikipedischer Historie. Die Balance zwischen Information und Plot gelingt nicht immer auf Anhieb. Großes Plus ist die stets dichte Atmosphäre, voller Gerüche und hemdsärmeliger Lebensart, auch wenn sich der Aktionsradius – das Sicherheitsbüro einmal ausgenommen – im Wesentlichen auf das damalige Ottakring, Simmering und ein wenig auf die Wieden beschränkt. Die Dialoge sitzen. Lesenswert ist das Buch insgesamt allemal, zumal es Lust auf eine Fortsetzung macht, die der Autor wohl auch schon dramaturgisch mit bedacht hat. Mit Leopold hat Pötzsch einen spannenden Typen geschaffen, nur aus seiner Eigenlogik heraus begreifbar, missionarisch, eigenbrötlerisch, mit einem Hauch von Autismus und ziemlich harter Schale, wenn‘s darauf ankommt. Lesen Sie selbst!
Oliver Pötzsch
Das Buch des Totengräbers
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