Rezension von Ingobert Waltenberger.
„Das musikalische Tagebuch aus 10 Jahren Goldmund Quartett. Eine sehr persönliche Zeitreise, die von Herausforderungen und Erfolgen, Begegnungen und Freundschaften erzählt.“
Das witzige Retro-Cover macht Lust auf mehr. In einem nostalgisch weinroten Ford Cabrio machen unsere vier Musiker einen beschwingten Ausflug ins Grüne. Gute Laune, Sonne, saftige Wiesen, Wald und schroffe Kalksteinberge im Hintergrund. Davor blankes Chrom und polierter Lack, schwarze Sonnenbrillen und ein Cellokasten, der wie ein neugieriger Hund seine Schnauze in den Himmel reckt. Allesamt blinzeln sie neugierig in die idyllische Gegend. Dass diese Quartettspieler (Florian Schötz 1. Violine, Pinchas Adt 2. Violine, Christoph Vandory Viola, Raphael Paratore Cello) die Berge mögen, ist ja spätestens seit dem Foto-Design der Haydn-Naxos CD offensichtlich.
Die Reise im Ford geht auf die Alm, musikalisch ist auf der schönen CD die gemäßigte Moderne vertreten. Das Album ist ein intimes Erinnerungs-Tagebuch, das sehr unterschiedliche Stationen der Karriere des Quartetts Revue passieren lässt und in erstklassigen Einspielungen festhält. Den Beginn macht der 1970 geborenen Fazil Say mit dem Streichquartett Op. 29 „Divorce“. Und da ist erst einmal Schluss mit lustig. Das Scheidungskind Say erzählt mit Musik Autobiographisches, mit dem Finger auf dem wunden Punkt, an dem er offensichtlich sein ganzes Leben ,gekiefelt‘ hat. Zwei Ehen hat er selber schon hinter sich gebracht. Von der das Glück verheißenden trügerischen Anbahnung bis zu hysterischen Eifersuchtsanfällen reicht die Bandbreite der in Klang transponierten Emotionen. Pinchas Adt, der das Stück im Booklet vorstellt, sieht Parallelen zum Quartettspiel und kann dem Auf und Ab auch etwas Positives abgewinnen: „Das Suchen und Ringen um einen gemeinsamen Weg sind nicht vergebens, denn es bleibt der Ausdruck echter menschlicher Auseinandersetzung“. Nicht um vorher aber festgestellt zu haben: „Im Stück „Divorce“ werden die Hoffnungen und Sehnsüchte letztlich nicht erfüllt.“ Auf jeden Fall handelt es sich um einen musikalischen Gruß aus dem niedersächsischen Kneipp-Kurort Hitzacker an der Elbe vom August 2019. Die Musik selber pendelt zwischen rhythmischer Schärfe, orientalischen Melismen und vitaler Selbstbehauptung hin und her.
Das Goldmund Quartett hat im Rahmen seiner Rising Star Tour von ECHO das Stück „The Smile of the Flamboyant Wings“ der bulgarischen Komponistin Dobrinka Tabakova in Budapest im November 2019 uraufgeführt. Das Quartett war als Adressat der Komposition Teil des Entstehungsprozesses. Schon vor Corona hatten sich die fünf Beteiligten intensiv über ,Skype‘ ausgetauscht, haben improvisiert, ausprobiert, die verschiedenen Konstellationen von Melodie und Begleitung erkundet. Das Ergebnis kann als ein einsätziges spirituelles Eintauchen in ein flächiges, kleine harmonische Rückungen vollziehendes Miteinander der vier Streicher empfunden werden.
Am besten gefällt mir das Streichquartett Nr. 4 von Wolfgang Rihm. Dem Alban Berg Quartett gewidmet, wählte das Goldmund Quartett das Stück für ihren ersten Kurs in Pont- Royal bei Günter Pichler, dem genialen Primarius des Alban Berg Quartetts, von dessen leidenschaftlichem Spiel ich lange Jahre als Abonnent im Wiener Konzerthaus als auch im privaten Rahmen hingerissen und besessen war. Raphael Paratore lässt die damalige Zeit in Südfrankreich anekdotisch Revue passieren. Da die Musiker für ihre Begegnung mit Pichler nicht ausreichend vorbereitet waren, mussten sie sich die Nächte mit Rihm um die Ohren schlagen. Sie entschlossen sich aus Gründen der Nachtruhe dazu, „das Stück zu singen, um die Rhythmen und Dynamiken zu verinnerlichen. Das Werk lebt von vielen Extremen und Lautstärkeunterschieden. Während die südfranzösische Quartett-Haus-Siedlung in nächtlicher Ruhe auf den neuen Tag wartet, hört man aus diesem einen Haus also vier Verrückte sich gegenseitig anschreien.“ Von den nächtlichen Eskapaden in Pont-Royal geht die Reise ins beschauliche Aix-en-Provence.
Im Départmement Bouches du Rhône nahm das Goldmund Quartett 2015 an der Akademie des Festivals teil. Die Komponistin in Residence war Ana Sokolovic, mit der die vier Musiker das Streichquartett „Commedia dell‘arte III“ erarbeitet haben. Im selben Jahr wurde in Aix die die Musiker begeisternde Oper „Svadba“ für sechs Frauenstimmen a cappella von Sokolovic aufgeführt. „Bei tagsüber 40 Grad proben wir bis spät in die Nacht hinein, während drei Ventilatoren um uns herum die Hitze erträglich zu machen versuchen…. Durch die gemeinsame Probenarbeit wird das Streichquartett für uns zu einem Stegreif-Theaterstück, welches wir wenige Tage später mit großer Freude zur Aufführung bringen“, weiß Christoph Vandory aus seinem persönlichen Tagebuch zu plaudern.
Die letzte Station führt uns nach Bilbao, wo 2019 „Aheym“ (Anm.: Jiddisch für Heimwärts) von Bryce Dessner mit Florian Schötz in einer Fassung für Kammerorchester aufgeführt wurde. Es ist nach der Idee des Erfinders eine „musical evocation of the idea of flight and passage“. Florian Schötz erinnert sich an die Energie und herausragende Dramaturgie des Stücks. Seither steht „Aheym“ in der Quartettfassung im Repertoire des Goldmund Quartetts.
Auch nach 10 Jahren in derselben Formation ist von Scheidung glücklicherweise keine Rede. Wir wollen herzlichst zum Geburtstag und dem überaus gelungenen Eigengeschenk gratulieren, das natürlich auch Freunde expressiven Quartettspiels allerorts entzückten wird. Bravo.
Goldmund Quartett
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Berlin Classics (Eden) 2020
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