Eine Ausstellung, die unseren Autor in Paris, Stephan Reimertz, begeistert
Vor einer Generation pilgerte das ganze noch nicht lange wiedervereinigte Deutschland nach Essen, um im Folkwang-Museum die Ausstellung der Sammlungen der beiden russischen Sammler und Mäzene Sergej Iwanowitsch Schtschukin und Iwan Abramowitsch Morosow zu sehen. Von Manet bis Tatlin, von der Mitte des neunzehnten Jahrhundert bis in die Hochzeit der Moderne reichen diese von außerordentlichem Geschmack und sicherer Kennerschaft zusammengetragenen Sammlungen. Die beiden Russen haben die Bilder zum Teil direkt aus den Ateliers in Paris gekauft oder bei Kunsthändlern wie Ambroise Vollard, die eng mit den Künstlern zusammenarbeiteten. Näher kann man der Kunstgeschichte nicht kommen. Nun hat die Fondation Louis Vuitton in Paris dem Sammler Sergej Schtschukin auf größerem Raum eine Retrospektive unter dem Titel Ikonen der modernen Kunst – Die Sammlung Schtschukin gewidmet. Der Begriff Ikone, ursprünglich den griechisch-byzantinisch-orthodoxen Bildtypus bezeichnend, erlebt derzeit eine Inflation. Alles ist eine Ikone. Tatsächlich aber enthält die Sammlung des Moskauer Textilfabrikanten Sergej Schtschukin auffallend viele Gemälde, die heute zu den bekanntesten Werken der Kunstgeschichte zählen.
Ein bedeutender Sammler ist einer, der die Werke der Künstler zu einem Zeitpunkt kauft, an dem noch wenige ihren Wert erkennen. Ein solcher Sammler war Schtschukin. Angesichts der Bilder von Degas, van Gogh, Gaugin, Monet, Picasso und Matisse, die in seinem Moskauer Palais dicht neben- und übereinander hingen, musste er sich Hohn, Spott und selbst Aggressionen seiner Zeitgenossen gefallen lassen. Er war seiner Zeit weit voraus und hat zahlreiche Künstler ermutigt, unterstützt und durchgesetzt. Seine Sammlung wurde in der Russischen Revolution verstaatlicht und mit jener von Iwan Morosow in einem Museum vereint. Nach dem Zweiten Weltkrieg verteilte man sie auf Befehl Stalins auf das Puschkin-Museum in Moskau und die Eremitage in Sankt Petersburg. Aus diesen Museen sind die Leihgaben in die Pariser Ausstellung nun gekommen.
Eine Sammlung von Hauptwerken
»Von jedem Künstler das Bild«, so lautete das Motto des deutschen Kunstsammlers Jacques Koerfer (1902 – 1990). Auch nahezu jedes Bild, das Sergej Schtschukin kaufte, ist ein chef-d’œuvre. So befindet sich ein Glanzstück von Picassos Blauer Periode in seiner Sammlung, auf dem der Maler 1903 in Barcelona den eleganten jungen aber melancholischen Benet Soler porträtierte. Man begreift die Faszination, die von Picasso von Anfang an ausging; das lila angestochene Blau taucht das Bildnis in eine Tinte von Depression und zeigt den Menschen und seine Vergänglichkeit in neuem Licht. Auch Paul Cézannes Raucher mit aufgestütztem Arm aus der Zeit von 1990 – 93, besonders aber sein Selbstporträt als 43jähriger offenbart das geheime Thema dieser Kunstsammlung: Der Weltgeist schreitet mit großen Schritten auf den Kubismus zu. Kein größerer Gegensatz zu Cézannes, aber auch zu Picassos in dieser Sammlung hängenden Porträts ist vorstellbar als Vincent van Goghs Bildnis des Dr. Rey, 1889 in Arles gemalt und voller Freude am Koloristischen und Dekorativen. Dieser Gegenpol innerhalb von Schtuschukins Interessen ist noch gesteigert in der Komposition einiger der besten Gemälde von Henri Matisse, dem Schtschukin in seinem Palais in Moskau einen eigenen Saal widmete, und dem auch in der Stiftung Louis Vuitton eine Halle zugeeignet ist.
Den Namen Vuitton verbindet man heute vor allem mit Reisegepäck und Markenshops. Der französische Handwerker und Unternehmer Louis Vuitton hätte sich im neunzehnten Jahrhundert dies sicher nicht träumen lassen. Die Stiftung hat den Charakter einer halbherzigen Wiedergutmachung. Für den Neubau im Parier Bois du Boulogne engagierte man den »dekonstruktivistischen« Architekten Frank Gehry. Ein Teil des Museums besteht in der Dokumentation seiner selbst. In dem wie ein zerschmettertes spaßhaftes Schalentier aus einem Comic wirkenden Bau haben die Kuratoren die Schtschukin-Retospektive in einer Art Palais auf vier Etagen in einem guten Dutzend Räumen realisiert. Wie in vielen Museen weltweit hat sich Grau in verschiedenen Abstufungen als Hintergrundfarbe durchgesetzt. Die Ausstellung ist mit Besuchern ebenso überfüllt wie jene von 1993 in Essen. Allerdings steht im Gehry-Bau sehr viel mehr Platz zur Verfügung als im Museum Folkwang, und so kann die epochemachende Sammlung von Sergej Schtschukin in all ihren Verästelungen dokumentiert werden.
Faszination des Schönen
Weit ist der Weg von einer Anbetung der Könige von Edward Burne-Jones, hier als Tapisserie aus der Manufaktur von William Morris, bis hin zu den Werken der russischen Avangardisten Wladimir Tatlin oder der Ljubow Popowa und des kubistischen Picasso, der in dieser Sammlung eine interessante Begegnung mit seinen russischen Zeitgenossen erlebt. Oft wird behauptet, der Erste Weltkrieg sei eine Art spiritus rector der Moderne, der Vater aller Dinge, was die moderne Kultur angeht. Diese Ausstellung beweist hingegen, dass es des Krieges nicht bedurft hätte, um sich der Krise im Bewusstsein am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts klar zu werden. In der Kunst geschehen die Katastrophen schon vor 1914. Doch André Derains Mann mit seiner Zeitung, ein Hochformat aus der Zeit des Kriegsbeginns, kann den Untergang der Welt nur noch machtlos zur Kenntnis nehmen.
Wer hat, wenn er die klassischen Schätze der Eremitage in Petersburg betrachtet hat, noch Energie, Schtschukins Sammlung der Moderne in den oberen Stockwerken zu besuchen? Wer findet zwischen den Schätzen des Puschkin-Museums in Moskau seine Picassos und Cézannes? Rußland wäre nicht schlecht beraten, die Sammlung aus den beiden Museen wieder auszugliedern und ein eigenes Schtschukin-Museum einzurichten; am besten als Rekonstruktion seines Palais Trubetskoj in Moskau. Eine erste Vorstellung davon, was den Besucher erwarten würde, gibt diese glänzende Ausstellung in Paris, die von einem umfassenden Musikprogramm begleitet wird. Trotz seines zentralen Anliegens, den Epochenbruch in großartigen Bildern festzuhalten, ist der Sammler Schtschukin erstaunlich offen, was Sujets und Techniken angeht. Zwar liegt seine Vorliebe in der Landschaftsmalerei, was uns einige der Landschaften von Monet, Pissarro und Rousseau beschert. Nach dem Weltkrieg jedoch ist er beim Suprematismus und bei anderen Kunstrichtungen der russischen und französischen Avantgarde gleich dabei. Diese Bilder scheinen auf den ersten Blick mit der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts nichts mehr gemeinsam zu haben und zeigen wiederum die Offenheit und Neugier Schtschukins. Ein rarer Kunstverstand paart sich hier mit einer unwiderstehlichen Faszination durch das Schöne, wie denn die Tänzerin im Atelier, ausgeführt von Edgar Degas im Jahre 1875, zu den anmutigsten Darstellungen des Tanzes gezählt werden kann, die uns dieser Maler hinterlassen hat.
Icônes de l’art moderne. La collection Chtchoukine
Ausstellung bis zum 5. März 2017
Fondation Louis Vuitton
8, Avenue du Mahatma Gandhi
Bois de Boulogne
75116 Paris
Öffnungszeiten bis 19 Februar:
Montag bis Donnerstag/ Samstag und Sonntag: 9 bis 21 Uhr
Freitag: 9 bis 23 Uhr
Öffnungszeiten ab dem 20 Februar
Montag, Mittwoch und Donnerstag: 11 bis 20 Uhr
Freitag: 11 bis 23 Uhr
Samstag und Sonntag: 9 bis 20 Uhr
Dienstag: geschlossen
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