Heute öffnet das Museum am Jardin du Luxembourg seine Tore für eine wohldurchdachte und geschickt präsentierte Ausstellung. 35 Jahre nach der Retrospektive im Grand Palais ehrt Paris Camille Pissarro mit einer Dokumentation seines klassischen Spätwerks.
Von Stephan Reimertz.
1884 zog sich der 54jährige Camille Pissarro nach Eragny-sur-Epte knapp hundert Kilometer nordwestlich von Paris zurück. Noch im Frühling desselben Jahres begann er einen revolutionären neuen Stil, in dem er sich von den Impressionisten losriss und der pointilistischen Schule von Georges Seurat anschloss. Im Herbst wurde ihm das letzte von acht Kindern geboren. 1903 starb der Patriarch des Nachimpressionismus 73 Jahre alt und lebenssatt. Die neue Ausstellung zeigt uns das letzte Kapitel einer großen künstlerischen Konfession. Wir erleben, wie ein neuer Stil aufglüht und von Mitte der siebziger Jahre bis kurz nach der Jahrhundertwende immer mehr an innerem Reichtum gewinnt. Wollte der Impressionismus den Eindruck, den Moment schildern, suchte Pissarros neuer Stil im Moment die Ewigkeit. Seine pointillistische Aufnahme der Welt würde man heute als verpixelt bezeichnen. Die Gemeingültigkeit der Bilder, die er damit erzielte, darf man jedoch klassisch nennen. Pissarros Pointillismus fügt zahllose Perspektiven zu einem irisierenden Bild zusammen. Zugleich wirken die wie in kleinste Teile zerbrochenen Blicke für uns sehr modern.
Aus der leicht erhöhten Perspektive seines Atelierfensters des für wenig Geld gemieteten Hauses in Eragny malt der Künstler stets aufs Neue den Garten, die Wiesen und das Dorf. Aufglühende Frühlingsgemälde, satte Herbstbilder und bewegte Schneelandschaften entfalten den Zauber von der Gegend immer wieder aus einer neuen Warte. Pissarro war der Jude und Linke unter den Impressionisten und Nachimpressionisten. Die Ausstellung hat durchaus auch dokumentarischen Charakter und zeigt Familienphotos ebenso wie Zeichnungen, mit denen der Künstler soziale Missstände anprangerte. Die Sennerinnen auf den Wiesen von Eragny hingegen gehören nicht mehr einer Arbeiterklasse an, sie sind klassische Figuren, an denen sich seit den Zeiten des Römischen Reiches nichts verändert hat. Pissarro suchte und fand im einzelnen Typus das Allgemeingültige.
Es zeigt sich, dass der Künstler in seiner punktierenden Malweise in Öl auf Leinwand ein neue Sicht der Welt, ein neues Weltbild eröffnet, dass indes seine in Gouache oder Pastell ausgeführten Zeichnungen zu einem ebenso frischen, überraschenden Blick auf die Welt einladen. Die Gelassenheit des Patriarchen verbindet sich mit einem revolutionären, jugendlichen Schwung. Pissarro verdankt der Beschaulichkeit von Eragny eine faszinierende neue Sichtweise seiner Welt. Und natürlich verdankt Eragny dem Maler seinen Einzug in die Kunstgeschichte und die Ewigkeit.
Die mit einem vielfältigen Film- und Vortragsprogramm ergänzte Ausstellung bietet auch Bilder des ältesten Sohnes von Pissarro, Lucien, sowie Exemplare von in dessen bibliophilen Verlag Eragny Press erschienenen Büchern von so unterschiedlichen Autoren wie Gustave Flaubert, John Milton und Pierre de Ronsart, die dem Geschmack der Jahrhundertwende nahestehen. Die Ausstellung über die wiedergefundene Zeit des Camille Pissarro schließt den zeitlichen Abstand zwischen der demnächst ihre Tore öffnenden Rodin-Ausstellung im Grand Palais und der Retrospektive des wilden Niederländers Karel Appel im Musée de l’Art Moderne, während man sich im Louvre derzeit mit Vermeer van Delfts Beziehung zur Genremalerei und Caravaggios französischem Gefolgsmann Valentin de Boulogne beschäftigt.
Pissarro à Éragny. La nature retrouvée
Ausstellung bis zum 9. Juli 2017
Musée du Luxembourg
19 Rue de Vaugirard
75006 Paris
Öffnungszeiten:
Montag bis Donnerstag und Samstag/Sonntag: 10.30 – 19 Uhr
Freitag: 10.30 bis 22 Uhr
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