Von Carsten Schmidt
Wenn selbst in einem Berliner Fitness-Studio zwei Exemplare von Robert Menasses Hauptstadt nebeneinander auftauchen, spricht das für die Verbreitung des 2017 mit dem Deutschen Buchpreis gekrönten Werkes. Und es wirkt umso lustiger, wenn sich die Leser der beiden Exemplare so verständigen: „Ich bin ganz verwirrt – ich dachte, es geht um Berlin!?“ – „Und ich dachte, es geht um Wien!?“ – denn dann damit sind sie sicher nicht allein. Es geht tatsächlich nach Brüssel in der „Hauptstadt“, in das politische Herzstück und den Maschinenraum der Europäischen Union.
Der österreichische Autor Robert Menasse, der in vielbeachteten Werken wie „Die Vertreibung aus der Hölle“ bereits vielfältig zeigte, wie er mit episodisch gestellten Figuren durch die Jahrhunderte sowohl Perspektiven, Sprachräume wie auch Zeitebenen beherrscht, beschränkt sich hier auf eine einzige Sphäre in der Jetzt-Zeit, genauer im März 2016. Das ist aber schon alles, was einfach erscheint an dem 460-Seiten-Roman.
Der Einstieg wirkt wie eine fröhliche filmische Posse, als ein Schwein durch die Innenstadt von Brüssel läuft und wir ähnlich wie beim Leben der fabelhaften Amélie beinahe spielerisch Kameraschwenks und Perspektivenwechsel schwirrend durch die Straßen verfolgen, wie einzelne Personen das Schweine-Szenario erlebt haben. Aber bereits in den gedanklichen Überblendungen von Figur zu Figur wird deutlich, wie ernst das Ganze gemeint ist – und gleichzeitig, wie kunstvoll Menasse es schafft, die Leser gekonnt in die Fallen tappen zu lassen und Charakterwechsel so geschickt einbaut, dass man oft irrt und eine Weile braucht, bis man begreift, in wessen Kopf man gerade steckt.
Es ist ein Schmelztiegel der Geschehnisse im Brüssel um die Tage des U-Bahn-Anschlags im warmen Frühjahr 2016. Im Herzen der Europäischen Kommission soll eine Idee ausgearbeitet werden, um die nach außen so kühl und beamtenlastig, ja staubig wirkende Behörde wieder auf Vordermann zu bringen und ihr Image in der Bevölkerung zu verbessern. Der Autor lässt uns teilhaben an einer rasanten Fahrradtour von Mitarbeitern des Kommunikations-Stabes und anderer Abteilungen, die sich über die Idee eines Festaktes zur Kommission zur Imagepflege eher lustig machen und den Aktionismus von Fenia Xenopoulou als nervig erachten. Alleine die Dialoge im sprachlichen Gewirr sind so elegant gelöst, dass man durch nur wenige Worte versteht, wie die Figuren unterschiedlichster Herkunft dort eine gemeinsame Sprache finden müssen – ohne dass es handwerklich bemüht klingt.
Gleichzeitig geschieht im Nebel belassen ein geheimnisvolles Verbrechen. Nach und nach wird deutlich, dass ein fanatischer Katholik, Ryszard Oswiecki, aus dem polnischen Bistum Posen einen Mord im zentral gelegenen Hotel Atlas verübt, jedoch den falschen Mann getötet hat und sich nun auf der Flucht befindet. Kommissar Brunfaut soll den Mord aufklären und sieht sich mit einer ungeheuren Vertuschung konfrontiert. Bereits kurz nach Aufnahme der Ermittlungen verschwinden Akten und digitale Spuren des Falls, als hätte es ihn nie gegeben. Brunfaut, gesundheitlich angeschlagen, nimmt wohl oder übel eine Auszeit, verfolgt jedoch heimlich weiter den Hintergrund für die Tat. Einen der ersten Zeugen, die er dabei verhört, ist der österreichische Professor Alois Erhart, der leicht tattrig, aber doch mit klarer Haltung nach Brüssel kam, um im Wortstreit gegen glatte neoliberale Think Tank-Lobbyisten und deren geliebte Sparpolitik zu wettern. Seine Funktion im Think Tank wird dadurch nicht gestärkt. Er, der alte Hase, wirkt bizarrer Weise wie ein Revolutionär inmitten der jungen Laptop-Träger. Während Kommissar Brunfaut in ein Krankenhaus geht, bezeichnenderweise das Hospital Europa, um sich eingehend untersuchen zu lassen, bemerkt er seine aufkommende Angst vor dem eigenen Tod, wenngleich er so oft mit Leichen zu tun hat.
Dem Tod entgegen schwebt gleichsam der demente Altersheimbewohner David de Vriend, einer der allerletzten Überlebenden eines Konzentrationslagers. Er gerät ins Blickfeld der Kommunikations-Abteilung der Kommission. Die Gruppe um Fenia Xenopoulou und Martin Susman glaubt, dass sie ihr Jubilee Project zur Feier der Kommission mit einem Auschwitz-Zeitzeugen gestalten können, als jemanden, der den Ort überlebte, dessen Schrecken zur Schaffung einer überstaatlichen, nach-nationalen Institution überhaupt erst beigetragen hat.
So ringen umeinander Figuren in einem Schmelztiegel und Weiten des Spektrums, das Menasse bewusst aufspannt – zwischen EU-Verfechtern und engherzigen Nationalisten, zwischen Vegetariern und dem Bruder von Martin Susman, dem Schweinegroßindustriellen Florian Susman, der bei einem Autounfall an der österreichisch-ungarischen Grenze von einem Flüchtlingsstrom zum Anhalten gebracht wird und von einer Muslima durch deren sanfte Hilfe vor der Lähmung gerettet wird. Die Charaktere agieren zwischen bewusst kühler, emotionsarmer Haltung wie die unglücklich „vielleicht verliebte“ Fenia und hoffnungslosen Sentimentalen, zwischen religiösen Fanatikern wie dem katholischen Auftragsmörder und absoluten Atheisten, aber auch zwischen Menschen, die die Vergangenheit vergessen wollen und denjenigen, die ihr verkrampft nachjagen.
Es ist nicht sinnvoll, hier die Handlung weiter zu verraten und zu schildern, welche Binnenkämpfe in der EU zwischen Rat und Kommission besprochen werden, wie die Lobbyisten wegkommen und wie letztlich die europäische Kultur, der europäische Geist wie eine Art Hauptfigur über allem schwebt. Wenn man durch eine Rezension auch schlichtweg eine Einladung aussprechen kann, ein Buch zu lesen und es als zurecht gekürt anpreisen soll, dann ist das bei der „Hauptstadt“ ganz im Sinne dieser Textform.
Vieles gelingt Robert Menasse wie aus einem Guss. Die Charakterbildung und allein die Namengebung ist schon großes Erzähl-Kino. Vom elegant-ekelhaft taktierenden Protokollchef Strozzi, vom verbissenen, zerrissenen Mörder Ryszard Oswiecki über die emotional angeschlagene Fenia – hier leiden und handeln Figuren, die man wirklich vor sich stehen sieht.
Die Erzählweise ist tief und detailgetreu, aber auch farbenreich und fantasievoll. So beschreibt der Autor etwa beim Kommissar Brunfaut ein „höllisches Seitenstechen, als würde sich ein großes Fragezeichen wie eine Sichel in sein Seelengeflecht schlagen, ein Schmerz, der tiefer saß als die Abschürfungen…“
Menasse gelingen Szenen, die bei etlichen Autoren eher peinlich verlaufen wären, wie eben jener Kommissar, der in der Badewanne mit seiner Lieblingsente spielt. Menasse macht es, ganz einfach, weil er es kann.
Wenn man kritische Punkte anmerken kann, dann vielleicht, dass das Buch mit seinen 460 Seiten gefühlt 50 Seiten zu lang ist. Im letzten Viertel gerät die Handlung einerseits ab und an recht zäh, so wie die Identitätskrise der griechischen Zypriotin Fenia doch einigermaßen umständlich geschildert wird, andererseits aber auch Handlungsstränge wie mit einem speed button beschleunigt scheinen, so etwa der Krankheitsverlauf vom Kommissar Brunfaut. Einige Dialoge sind zudem etwas zu steif für einen flüssigen, nachvollziehbaren, mündlichen Stil. Aber das alles sind Kleinigkeiten – im Rahmen eines großartig gelungenen europäischen Werkes, über das noch lange gesprochen werden wird.
Robert Menasse
Die Hauptstadt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
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Robert Menasse ist auf Lesereise.
Coverabbildung © Suhrkamp Verlag
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