Von Carsten Schmidt
Eines der schwierigsten Dinge auf der Ebene Mensch zu Mensch ist es, das Innenleben und die Kämpfe in einer Person darzustellen und sie einem Mitmenschen, geschweige denn einem großen Publikum verständlich zu vermitteln. Wiesen, Brandungen, rauschende Bälle, Schneegestöber, all das ist wunderbar beschrieben worden – doch wie kann man Lesern Gefühle und sogar geistige Bedrängnis und psychische Krankheit nahe bringen, die es nicht kennen? Menschen, die denken, eine Depression sei schlechte Laune, ein schlechter Tag oder eine echte Migräne sei wie ein bisschen stärkere Kopfschmerzen. Aber dass ein offener Bruch des Oberschenkels kein Kratzer ist – das würden sie verstehen. Für solche Menschen wäre „Herzvirus“ eine Horizonterweiterung.
Die Schweizer Autorin Bettina Spoerri widmet sich im autobiographischen Buch „Herzvirus“ dem Thema der Herzerkrankung, die zum Tod ihrer Mutter führte und der viele Jahre an psychischer Krankheit vorausgingen. Die Kindheit der Autorin war geprägt von einer unterbrochenen Vater-Bindung, dann aber vom recht stabilen Leben zu viert, mit der klugen, liberal denkenden, rundum sorgenden Mutter und den beiden älteren Brüdern, die der kleinen Bettina in Frechheit, Freiheit und teilweise in Erwachsenen-Wissen einen Schritt voraus sind.
In die wechselhafte Welt des recht gut harmonierenden Vierer-Clans mischen sich allerdings Zwischentöne der Angst, der Kontrolle und der Ungewissheit. Jenseits von den Dingen, die im Zusammenleben klappen, wächst eine Unsicherheit zur Identität und zur Gewissheit von Bettina, das Richtige zu tun und in der Umwelt anerkannt zu sein. Durch eine sich im Laufe der Jahre steigernde Nervosität und psychische Labilität der Mutter sowie durch viele Umzüge gerät Bettina immer weiter in die geistige Enge, ins Zweifeln und Zögern. Schamgefühl stellt sich vor Lockerheit und Offenheit.
Beschrieben werden solche emotionalen Erkenntnisse durch eine detaillierte, liebevolle und teilweise tief synästhetische Sprache:
„Das Haus, in dem sich unsere Wohnung befindet, schaut mich vorwurfsvoll an….Alle befinden sich am richtigen Ort, nur ich nicht.“
„Ich bin sicher, dass irgendwo ein Zwilling von mir lebt, ein Mädchen, das genauso aussieht wie ich … aber bei ihr gibt es einen Vater und eine Mutter, zu denen sie nach der Schule nach Hause kommt und die sie dann lächelnd umarmen.“
Stellen wie diese beschreiben, wie sehr die Mutter mit sich hadert und zu relativ wenig Emotionalität und Wärme fähig ist, sich aber dennoch zerreißt vor Bemühen, gut zu funktionieren. Dabei spielen ihr ihre psychischen Kämpfe immer häufiger einen Streich. Die kleine Bettina kann es nicht verstehen, warum die Mutter das Rapsöl nicht wieder zurück stellt im Supermarkt, obwohl sie Olivenöl wollte, nämlich damit niemand ihre sicher ansteckenden Keime bekommt. Später versteht sie es, als es neben der Angst, auch aus dem Urlaub noch bei den Nachbarn anzurufen, ob der Gasherd wirklich ausgestellt sei, auch stärkere Ausbrüche und manische bzw. bipolare Attacken gibt.
Absichtlich abstrakt ist das äußere Leben gehalten. So erfahren wir kaum Hinweise auf die Städte, durch welche die Familie Spoerri zog, offenbar quer durch den Schweizer und süddeutschen Raum. Das Familienleben dagegen ist durchweg mit einer wohlwollenden, nicht anklagenden, sondern fast zärtlichen Art beschrieben.
Der jungen Bettina gelingt es daheim und überall, wo sie ein Buch findet, durch Sprache und Literatur nicht nur eine Welt zu finden, in die sie sich flüchten kann. Es gelingt ihr auch, durch Bücher einen Draht zur Mutter aufrecht zu erhalten. Eine weitere Säule ist die Musik. Die nimmt physisch durch das Klavier in der Wohnung keinen kleinen Raum ein, und auch er wird wertschätzend beschrieben:
„Der sonore Klang der hellen, tropfenförmigen Filzschläger auf die mit Gold umwickelten Saiten beruhigt mich. Ich türme die Töne aufeinander, horche in die Gewitterwolken hinein…“
Diese Stelle ist beispielhaft für das anspruchsvolle, höchst sensible und unglaublich tiefe Schreiben von Bettina Spoerri. Sie schafft es dadurch zu zeigen, wie kulturelle Elemente auf sie gewirkt haben und ihr halfen, selbst in einer unsicher werdenden Umgebung als Tochter relativ stabil zu bleiben.
Ihre Mutter jedoch verliert den Kampf um die Stabilität und das Funktionieren im alltäglichen Leben Schritt für Schritt. Ihre Persönlichkeit löst sich quasi auf. Die Kinder versuchen mit allen Kräften, für die Mutter dazu sein, zwischen Zwangseinweisung, geistiger Abwesenheit und Medikation daheim.
Die dramatischen Episoden des Versuchens sollen hier nicht auserzählt werden – die Tochter selbst findet zum Ende des Buches eine passende Einschätzung, gebunden in die wichtige Erkenntnis, dass sie nicht Schuld an der Entwicklung war:
„Ich konnte sie nicht beschützen, so sehr ich das auch gewollt hätte.“
Immer wieder kommt einem das Wort in den Sinn: Tief. Wie tief! Und auf eine irgendwie warme Art ernst.
Vielleicht weiß Bettina Spoerri das selbst gar nicht. Weiß nicht, was sie da aufs Papier gelegt hat, und wie kunstvoll, phantasiereich und sprachlich hochwertig das gelungen ist. Irgendjemand sollte es ihr sagen. Und tausend anderen potentiellen Lesern und Leserinnen auch.
Manchmal lässt sich indirekt beschreiben, wie sehr einen ein Buch mitgerissen hat und wie man sich in ihm verlieren kann. Ich persönlich bemesse es an der Anzahl der U-Bahn-Stationen, die ich verpasse, weil ich tief versunken bin in ein Buch: Ijoma Mangold, zwei Stationen; Robert Menasse, acht Stationen, Bettina Spoerri, vierzehn Stationen.
Bettina Spoerri,
Herzvirus
Braumüller Verlag, Wien, 2017
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Coverabbildung © Braumüller Verlag
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