In den beiden schönsten Rokoko-Theatern Deutschlands, dem Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth und dem Cuvilliéstheater in München, gibt Anja Silja die Wilhelmine von Bayreuth. Die Oper Artaserse von Johann Adolf Hasse dient als Vorlage für ein postmodernes Rokoko-Arrangement. Von Stephan Reimertz
Wieviel besser wäre die deutsche Geschichte verlaufen, wenn die Mitglieder des Hauses Brandenburg sich aufs Komponieren beschränkt hätten! Musikalische Begabung ist bei den Hohenzollern fast so verbreitet wie bei den Habsburgern. Zwei der Kinder des Soldatenkönigs, Friedrich und Wilhelmine, waren als Schriftsteller ebenso begabt wie als Komponisten. Und beide ließen ein Theater errichten. Friedrich befahl nach der Thronbesteigung seinem Architekten Knobelsdorff, das Opernhaus in Berlin Unter den Linden zu bauen, Wilhelmine schenkte sechs Jahre später als Markgräfin von Bayreuth der Residenzstadt ein Operntheater. Der Architekt Joseph Saint-Pierre baute das Markgräfliche Opernhaus für tausend Zuschauer, das noch heute zu den Bijouterien des Rokoko zählt, nicht anders als das nur wenige Jahre später in München vollendete Residenztheater von François de Cuvilliés. Während Friedrich der Große vor allem Flötenkonzerte für den eigenen Vortrag komponierte, schrieb seine Schwester eine Oper. Nun hatte man Gelegenheit, Wilhelmine in ihrem eigenen Opernhaus in Bayreuth und im Münchner Cuvilliéstheater kennenzulernen. »Kennen Sie in Deutschland schönere Theater als das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth und das Cuvilliéstheater in München?« »Nein, aber gehen Sie einmal ins Theater im Neuen Palais in Potsdam oder ins Theater am Schloß Schönbrunn. Gerade Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurden zahlreiche Theater gegründet. Viele davon existieren heute nicht mehr.«
Die Oper lag der Markgräfin am Herzen
»Waren Opern von Prinzessinnen in jenen Jahren die Ausnahme?« »Sie waren selten, kamen aber vor. So komponierte z. B. im Jahre 1754 Marie Antoine Walpurgis, Prinzessin von Bayern und Kurfürstin von Sachsen, die Oper Il trionfo della fedeltà.« Wilhelmine von Bayreuth komponierte eine Oper unter dem Titel L’Arenore. »Die Oper war damals der zentrale soziale Treffpunkt.« »Genau wie heute! Als Dichter möchte ich darauf bestehen, dass die Oper zuerst eine literarische Gattung ist. Hier gilt der Grundsatz: Prima le parole e poi la musica!« Erfolgreiche Libretto-Dichter wie Pietro Metastasio waren beliebt bei Komponisten. Sein Textbuch Artaserse war eines der meistvertonten Libretti des achtzehnten Jahrhunderts; an die neunzig Opern verwandten die Geschichte um den Perserkönig Xerxes. Eine davon stammt von Johann Adolf Hasse, dem bei Hamburg geborenen Schüler von Alessandro Scarlatti, und wurde 1730 in Venedig uraufgeführt. 1741 kam Christoph Willibald Glucks Opernerstling Artaserse in Mailand heraus, um nur eine von zahlreichen anderen Vertonungen zu nennen. Als sich Balász Kovalik, Eva Pons du Julia Schinke nun in den Kopf gesetzt hatten, Wilhelmine von Bayreuth als Bühnenfigur auferstehen zu lassen, wählten sie jedoch nicht deren eigene Oper L’Argenore, sondern Hasses Artaserse.
Eine alte Geschichte, einmal anders
Das kühne und einfallsreiche Regie-Team entschied sich für dramaturgische Vielschichtigkeit. Eine einzige Handlung ist zu jedem Zeitpunkt mit mehreren Bedeutungen aufgeladen. Über das intrigenreiche Geschehen um den Perserkönig Artaxerxes legen die Opernkünstler eine zweite Ebene, auf der die allbekannten Geschehnisse am preußischen Hofe unter Friedrich Wilhelm I. abgehandelt werden. Die Konflikte von Wilhelmine und Friedrich mit ihrem barbarischen Vater, der Fluchtversuch des Kronprinzen, die Hinrichtung seines Freundes Katte, all diese traumatischen Vorfälle, in der Schule x mal durchgekaut, werde hier noch einmal von Opernsängern gemimt. Der ideale Zuschauer dieser Opernproduktion ist eine Schülerin, die gerade die Memoiren der Wilhelmine von Bayreuth gelesen hat und zur historischen Nachbereitung ins Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth oder ins Münchner Cuvilliéstheater geht. Dieses modellhafte Buch liegt seit Jahrzehnten in einer Übersetzung aus dem Französischen im Insel Verlag vor. Man kann sich nur darüber wundern, dass es im Schulunterricht wenig gelesen wird, sei es im Fach Geschichte, sei es auch, im Original, auf Französisch. Denn dieses Buch bietet ein Panorama des achtzehnten Jahrhunderts, das seinesgleichen sucht. Neben der Geschichte Friedrichs des Großen, erzählt von seiner Schwester, erfahren wir viel über das Leben an Adelshöfen dieser Zeit, wenn auch die brutale Behandlung, die König Friedrich Wilhelm I. seinen Kindern angedeihen ließ, selbst für diese Epoche einzigartig ist. Dem Regieteam und den Darstellern der neuen Opernproduktion gelingt es auf virtuose Weise, ihre vielschichtige Version von Artaserse zu erzählen. Dazu ziehen sie zwei Trümpfe aus dem Ärmel: Das verkleinert nachgebaute Proszenium des Markgräflichen Theaters in Bayreuth, das gedreht und gewendet werden kann und ein vielseitiges Spiel mit dem Theater im Theater erlaubt, und Anja Silja.
Anja Silja, Markgräfin von Bayreuth
In den sechziger Jahren hat Anja Silja in Bayreuth als junge Mezzosopranistin manche Schmach von ihrer „Schwiegermutter“ zu erleiden gehabt. Nun wird sie in der Rolle der Markgräfin Wilhelmine doch noch zur Herrin von Bayreuth. Die Partie haben die Regieenthusiasten der Oper von Hasse als reine Sprechrolle hineingefügt, wobei Texte aus den Memoiren der Markgräfin ebenso verwandt werden wie aus ihrem Briefwechsel mit Friedrich dem Großen. Als Abschluss und Höhepunkt der originellen Produktion trägt Anja Silja ein Accompagnato in einer Art Sprechgesang vor. Niemanden im Theater ließ das kalt, denn jeder hat in seiner Kindheit und Jugend Opernerlebnisse mit Anja Silja gehabt. So gelang es der intelligenten Regie nicht nur, einer unterschätzten Frau der Geschichte und Kulturgeschichte zu huldigen, sondern auch einer Sängerin, die schon längst ein lebender Mythos ist.
Oper für alle, auch für Besserwisser
Wie Julia Schinke in ihrem charmanten und kenntnisreichen Einführungsvortrag betonte, folgt die musikalische Interpretation der informierten Spielweise. Ein Musiker muss heutzutage auch Musikwissenschaftler sein. Eine historische Partitur wie Hasses Artaserse muss erst einmal nach den Quellen erstellt werden, und die Interpretation fordert von jedem Instrumentalisten ein hohes Maß von historischem Bewusstsein und musikalischer Bildung. Die Hofkapelle München unter Michael Hofstetter ernteten denn auch jubelnden Applaus, weil jeder im Raum begriff, wie intensiv und genau die Musiker das Werk durchdrungen haben.
Mit packender Frische und Präsenz erklang diese Musik aus der Epoche zwischen Händel und Mozart. Unter den Sängern waren es vor allem Pauline Rinvet und Kathrin Zukovski, deren ausdrucksstarke Soprane die Zuhörer beeindruckten. Dass das Regieteam bei allem Jubel auch ein paar Buhrufe einstecken musste, wirkte nachgerade albern. Wenn diese Buhrufer eine »originale« Aufführung von Hasses Oper haben wollen, sollen sie uns doch bitte sagen, wie diese aussehen könnte. Sollte ihnen indes das postmoderne Aufpolieren des Rokoko-Juwels nicht weit genug gegangen sein, dann muss es sich um Opern- und Literaturprofessoren der Universität Harvard gehandelt haben. Für uns Normalsterbliche war diese Aufführung ein Geschenk, eine Erweiterung der Gattungsmöglichkeiten mit vielen Geistesblitzen. Oper ist jedoch keine Veranstaltung, die man passiv konsumieren kann. Sie ist eine Einladung zum produktiven Zuhören und eine Aufforderung, durch eigene Erscheinung und Kleidung zum barocken Gesamtkunstwerk beizutragen. Was das produktive Zuhören angeht, so hat das Publikum in München kaum seinesgleichen. Die Kleidung sah jedoch bei den meisten Besucherinnen so grauenvoll aus, dass Wilhelmine von Bayreuth sich im Grabe umgedreht haben wird.
Aufführungen am 13. und 15. Mai 2018, 19.30 Uhr
im
Cuvilliéstheater
Residenzstr. 1
80333 München
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Ich finde, eine gelungene Rezension macht Lust aufs Besprochene: Bild, Ton, Text. Das tut dieser Bericht aus München auf angenehme und anregende Weise. Herr Reimertz ist m.E. ein einfühlsamer Opernbesucher, der Freude an der Kunst, Musik, Inszenierung und Darstellung überzeugend vermittelt (und nicht als Schwächen-Scanner fungiert wie so manch anderer); Stephan Reimertz lädt uns ein, teilzuhaben an einer großen Tradition – das ist gelungener Journalismus. Vielen Dank dafür!
PS: Und Dank auch für den mutigen Hinweis auf die textile Zumutung durch die Besucherinnen! Endlich spricht es jemand öffentlich aus, was uns da – und nicht nur in München – als textile Grauslichkeit, als optische Qual zugemutet wird. Mir scheint, das hiesige Theatergewand der Besucher(innen) scheint immer frisch der aktuellen Altkleidersammlung zu entstammen. Zum Glück sieht es in Stuttgart schon wieder ganz anders aus.