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Alles andere als depressiv: Les Cris de Paris „Melancholia“

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Von Ingobert Waltenberger.

„Wer ist nicht verrückt? Wer kennt sie nicht, die Melancholie? Wer ist von ihr nicht auf die eine oder andere Wiese berührt?“ Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie 1621

Das neue Album des formidablen französischen a cappella-Ensembles „Les Cris de Paris“ ist italienischen und englischen Meisterwerken der polyphonen Avantgarde rund um 1600 gewidmet. In kaum einer anderen Epoche wie der Spätrenaissance sind musikalische Schöpfungen rein für die menschliche Stimme, egal ob weltlich oder sakral, entstanden, die eine so kühne Harmonik sowie eine exzessive Verwendung von Chromatik und Dissonanzen aufweisen.

Unter der Stoßrichtung „musica reservata“ oder „musica secreta“ sind die frz. Musiker und ihr spiritus rector Geoffroy Jourdain in nächtelangem Stöbern in den Archiven eines südfranzösischen Zisterzienserklosters fündig geworden. Die CD ist in klingendes Kuriositätenkabinett geworden, mit einem „zum Sterben schönen“ Hang zu Exzentrizität. Introspektive Themen wie Klagen und Lamentationen waren damals Ausdruck einer Welt im Umbruch, der Neubestimmung des Menschen und der Frage nach der Stellung Gottes. Oft tritt diese Melancholie als Schatten von Künstlern zutage, und fördert deren Kreativität ganz nach dem Motto „Vergnügen zu finden in der Meditation, selbst wenn sie Schmerzen verursacht.“ (Trevaux 1771).

Mit komplex polyphonen Preziosen aus Italien und England präsentiert sich die CD als eine „nächtliche Reise“ durch die Abgründe tiefer seelischer Not, basierend auf Gedichten von Petrarca, der elisabethanischen Lyrik und Tenebrae-Responsorien. Mit den Werken von John Wilbye, William Byrd, Carlo Gesualdo, Orlando Gibbons, Luca Marenzio, aber auch weniger bekannter Meistern wie Pomponio Nenna, Luzzasco Luzzaschi und Thomas Weelkes kann der Hörer einen Trip ins eigene Ich und dessen Vergänglichkeit wagen. Oder aber er begnügt sich mit den haarsträubenden kompositorischen Fantastereien etwa eines Carlo Gesualdo (man erinnere sich: er hat nebstbei auch seine Frau und ihren Liebhaber abgemurkst), dessen hier präsentierte Titel „Mercé grido piangete“, „O vos omnes“ und „Tristis est anima mea“ absolute Höhepunkte der Musikgeschichte und Zeugnis der hohen Sangeskunst der aus vier Sopranstimmen, zwei Countertenören, drei Tenören und zwei Bassbaritonstimmen bestehenden Formation „Les Cris de Paris“ darstellen.

Das Hören macht ganz und gar nicht depressiv, im Gegenteil. Das feine, bisweilen ironisierende Singen voll von süßem Weltschmerz, der kunstfertige Manierismus, aber auch das sehnsuchtsvolle Aufblitzen in wilden Verzierungen und Läufen sowie die pochende Lust am Schmerz bewirken, dass manche Madrigale und Motetten zu filigran gesponnenen kontrapunktischen Geweben des „Glücks, traurig zu sein“ werden. Natürlich gibt es daneben auch infernale Köstlichkeiten wie die alle Monstrositäten des Jüngsten Gerichts besingenden „Quivi sospiri“ von Luzzaschi. Unter die rein vokalen Stücke mischen sich instrumentale Einlagen zum Abkühlen (Bratschen, Zinke und das historische Blechblasinstrument Serpent).

Die zehn Solisten sind gemeinsam nur in William Byrds „Tristia et anxietas“ und Carlo Gesualdos „O vos omnes“ zu hören, in allen andern Stücken treten die eine oder der andere von ihnen in kleiner besetzten Kombinationen auf. Es ist eine Freude, so großartige Sänger, von denen insbesondere die seraphischen Sopranstimmen hervorzuheben sind, in vollem künstlerischen Einverständnis, wohlklingend aber dennoch gläsern genau artikulierend, erleben zu dürfen. Ein adäquateres Album für den Monat November ist kaum vorstellbar. Magnifique!

Les Cris de Paris/Geoffroy Jourdain
Melancholia. Madrigale und Motetten um 1600,
harmonia mundi 2018

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