Kolumne von Susanne Falk.
Eigentlich bin ich aus dem Alter längst raus. TikTok ist etwas für Teenager. Aber manchmal läuft das wie mit Hase und Igel – einer ist immer schon da. Oder, wie in diesem Fall, schon da gewesen. Wenn Teenies die Musik ihrer Urgroßeltern entdecken, darf sich ein Mensch schon wundern. Seit wann sind Shantys trendy?
Mein Großvater hat so etwas gerne gehört. Entsprechend buchte ich es als Großvatermusik ab. Dazu tat der örtliche Shantychor in meiner Kindheit sicher das seinige, der in gewohnt schräger Art bei Musikveranstaltungen in der Mehrzweckhalle meines Dörfchens mein gar nicht mal so sehr geschultes Ohr zum bluten brachte. Ach, hätten die mal vor Madagaskar gelegen und wirklich die Pest an Bord gehabt! So enthusiastisch die Männer auch sangen, und es waren nur Männer, so wenig talentiert und bemüht klang das Ganze doch.
Bei Ina Müller sieht das immer alles so leicht aus. Deren Shantychor, der „Inas Nacht“ musikalisch begleitet, ist zwar auch altbacken, aber auf eine liebenswerte Art und Weise. Und Ina Müller der notwendige Gegenpol. Nur hat halt nicht jeder Shantychor eine Ina mit an Deck. Sollte er aber. Schließlich sind Singen und Saufen zwei herausragende Merkmale von „Inas Nacht“ und das trifft sich in etwa inhaltlich mit den meisten Shanty-Liedern.
Nun ist Seemannsmusik plötzlich wieder in. Ein junger Schotte sang Anfang des Jahres ein Sea-Shanty, nämlich „The Wellerman“, mitsamt Begleitung und ging damit auf TikTok sowie YouTube viral. Nun singt die ganze junge Männerwelt (und durchaus auch viele junge Frauen) angeblich Shantys. Mit dabei sind nun auch noch Kermit der Frosch und Jimmy Fallon. Ach ja, und Andrew Lloyd Webber.
Ob das jetzt ein Zufall ist, dass diese Art der Musik während der Coronakrise um sich greift? Zwar waren sie ursprünglich zur Unterstützung bei schwerer Arbeit gedacht (etwa wenn alle Mann an Bord im gleichen Takt arbeiten mussten), aber der Geruch der großen weiten Welt haftet diesen Liedern ganz offensichtlich immer noch an. Jetzt, wo wir nicht in die Welt hinaussegeln können, kommt die Musik also zu uns nach Hause.
Und plötzlich verstehe ich, warum diese wahrhaft unmusikalischen Shanty-Chöre schon damals so einen Zulauf hatten. Es war einfach egal, ob sich der Gesang gut anhörte, es war ja eh nur das Substitut. Bei Shantys geht es nur zweitrangig um die Musik, es geht vielmehr um den Traum von Freiheit (und definitiv nicht ums Walfangen), die Gründe, warum seit Jahrhunderten Menschen zur See fahren: Abenteuerlust, Neugierde und ein verlockendes Gefühl von Aufbruch und Neuanfang. Wann wenn nicht jetzt würde man dieses Gefühl wohl wirklich brauchen? Darauf einen Tee mit Zucker und Rum! Soon may the Wellerman come…
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