Von Stefan Pieper.
Weitgehend vorbei sind die Zeiten, in denen tonangebende Jazz-Festivals vor einem exklusiven Publikum etablierte Stars des internationalen Tournee-Zirkus präsentieren. Wer heute der improvisierten Musikvielfalt eine Festivalbühne geben will, dem geht es ums Entdeckbar-Machen des Ungehörten – und im Idealfall auch um die künstlerische Durchdringung der Region. Eine Vorreiterrolle in dieser „neuen“ Festival-Philosophie spielt seit vielen Jahren das Südtirol Jazzfestival. Seit der Bozener Klaus Widmann in den 1990er Jahren die künstlerische Leitung übernahm, sind Hotels, Museen, Wiesen, Wälder, Steinbrüche und immer wieder die Berghütten vor spektakulärer Landschaftskulisse zu selbstverständlichen Spielstätten geworden. Die dadurch möglich werdenden Entdeckungsreisen in Sachen Jazz wirken wie eine nachhaltige Alternative zum überlaufenen und kommerziell ausgeschlachteten Ferien-Trubel während der Hochsaison.
Die Vorbereitungszeit für die aktuelle Festivalausgabe nach der Zwangspause im letzten Jahr war verschwindend kurz angesichts der Pandemielage. Aber was innerhalb von nur zwei Monaten gestemmt werden konnte, fühlte sich wie eine Wiedergeburt der Livekultur an. Auch wenn „nur“ 27 und nicht gleich ein halbes Hundert Konzerte die zehn Festivaltage anfüllten – und auch noch Luft ließen, das sommerliche Flair der charmanten Südtiroler Hauptstadt und der tollen Bergwelt drumherum zu genießen. Ein Novum dieses Jahr: Neben den vielen Außenspielstätten gab es diesmal ein echtes „Zentrum“ des Festivals, nämlich eine feste Open-Air-Arena mitten im Stadtzentrum von Bozen.
Zum diesjährigen gewählten Länderschwerpunkt wurde das geographische Einzugsgebiet der Donau. In diesem interkulturellen Raum, der von Deutschland über Länder wie Ungarn, Kroatien, Serbien und Rumänien bis in die Ukraine reicht, spielten in Bozen viele Bands befreit und experimentierfreudig auf: Die junge ungarische Band „Deus Ex Quartett“ zog in einen hypnotischen Sog aus modalem Jazz und Post-Rock hinein – sehr cool, sehr charismatisch wirkte dies. Aus Albanien kommend hatte der Sänger und Gitarrist Orges Toce seine „Ockus-Rockus-Band“ mitgebacht, um hier einen explosiven Balkanfolk-Hochgeschwindigkeitsjazz frei zu setzen. Sein rauher, eindringlicher Gesang in albanischer Sprache artikuliert politische Aussagen, die sich im Booklet seiner CD auch in Übersetzung nachlesen lassen. Das Trio „Black Sea Songs“ vereinte den experimentierfreudigen Klarinettenspieler und Elektronik-Klangzauberer Joachim Badenhorst mit dem rumänischen Geiger George Dumitrio und der türkischen Sängerin Sanem Kalfa. Diese zog alte Songs aus ihrer Heimat an der Schwarzmeerküste heran, um in einem schillernden Klangkosmos emotional und stimmlich zum Äußersten zu gehen.
Das Bewusstsein für Synergieeffekte und natürlich Klaus Widmanns persönliche Vernetzung ist der Motor für den Jazz in der Region Südtirol. Jüngstes Beispiel ist eine neue Kooperation mit dem Bergfotografiemuseum Lumen, hoch oben bei der Seilbahnstation auf dem Gipfelplateau im Kronplatz-Skigebiet. Aus dem Erlös der Einnahmen aus dem Skitourismus entstand dieser neue Kulturort, der so ziemlich alle ästhetischen und historischen Aspekte der Bergwelt inszeniert. Was liegt hier näher, als dieses Museum durch ein exklusives Gastspiel des Alto Adige Festivals zu adeln und damit international bekannt zu machen! Das österreichische Duo „Raadie“ improvisierte während der Abenddämmerung auf elektrischer Zither und einer sphärisch schwebenden Trompete zu künstlerischen Videoeinspielungen aus der Bergwelt, zu der per Drohne aufgenommene Choreografie mit Pistenraupen gehörten.
Wie an einer Perlenkette aufgereiht, wirken die gezackten Massive von Langkofel, Sella, Marmolata, Rosengarten und Latemar bei einem anderen “Außentermin” des Festivals – hoch oben auf der Feltuner Hütte auf dem Ritten, einem über 2000m hohen Hausberg von Bozen. Menschen ruhen sich auf Liegestühlen aus. Kinder spielen und freuen sich über Höhenluft und noch mehr Platz. Den Soundtrack für all dies liefert die Münchener Jazzcombo „Fazer.“ Gleich zwei Schlagzeuger takten den Landschaftsfilm in einen gleichmäßigen Ruhepuls. Trompete und Gitarre erzählen gechillte Improvisationsgeschichten in hellen, luftigen Farben dazu. Jazzkonzerte beim Alto Adige Festival kommen oft synästhetischen Erfahrungen gleich.
Eine große Entdeckung des Festivals kam aus Ungarn. „András Dés Rangers“ treiben als erfahrene junge Jazzband den musikalischen Feinsinn auf die Spitze. Die friedliche Stimmung, die Gerüche und alles feine, leise, naturhafte, was um sie herum passiert – das atmen die vier Musiker tief ein. „Ausgeatmet“ wird ein leichtfüßiger Kammerjazz voll beseelter melodischer Linien und subtiler klanglicher Finesse. Vielleicht wird auch diese Band ihren Weg durch Europas Jazzspielstätten antreten. Im Gespräch äußerten sich die Musiker hinterher selber verblüfft, wie sich der Dialog mit Landschaft und Natur anfühlt – vor allem, welche Energie die Stille der Bergwelt dem eigenen Spiel entgegen setzt. Genug Konzertveranstalter, welche dieses einzigartige Festival als Inspirationsquelle für die eigenen Programmplanungen zu schätzen wissen, waren auf jeden Fall anwesend.
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