Kolumne von Susanne Falk.
Ich war schockverliebt, vom ersten Wort an. Mitten in den Alpen, irgendwo kurz vor der italienischen Grenze, auf der Rückbank unseres alten Mercedes‘, eroberte er mein Herz, dieser sture norddeutsche Charakter. Daran hat sich bis heute nichts mehr geändert. Hauke Haien und ich – é un grande amore!
Eigentlich war ich ja noch viel zu klein für Theodor Storms „Schimmelreiter“, acht, evt. auch schon neun Jahre muss ich gewesen sein. Meine große Schwester, fünf Jahre älter als ich, hatte das Reclamheftchen voller Notizen, das schon leicht zerfleddert war, als Lektüre in die Ferien nach Lignano mitgenommen und mir in wenigen Worten den Inhalt geschildert. Ich war sofort Feuer und Flamme, wollte aber das Buch nicht selbst lesen (Übelkeit beim Autofahren, Faulheit, kleine Schrift…) und bat nun also meine Schwester, sie möge mir doch den „Schimmelreiter“ vorlesen. Das tat sie – unter einer Bedingung: Ich müsse ihr den Rücken kraulen. Wann immer also in den folgenden Stunden mein Arm erlahmte, hörte sie auf zu lesen. Keinem meiner Kinder habe ich jemals später so lange am Stück den Rücken gekrault wie meiner lesenden Schwester, einfach weil ich nicht genug von der Geschichte bekommen konnte!
Interessanterweise blieb für mich Hauke Haien nicht einfach nur eine literarische Figur. Ich kannte ja die Nordseeküste, den Hauke-Haien-Koog und hatte in der Schule gerade gelernt, wie man Deiche baut. (Sachkundeunterricht in Schleswig-Holstein ist, nur nebenbei bemerkt, wirklich eine ganz andere Nummer als in Österreich…) Hauke Haien war für mich vollkommen real. Hingegen glaubte ich schon länger nicht mehr ans Christkind, den Osterhasen, den Nikolo oder gar den Weihnachtsmann. Eben jene Schwester, die meine lebenslange Liebe zu Theodor Storm erweckte, hatte mich bereits im zarten Alter von vier Jahren beiseite genommen und mir erzählt, dass die allesamt erfunden waren. „Ich erzähle dir das nur, damit du dich nicht vor anderen Kindern blamierst!“, hatte sie gesagt. Dabei war mir noch nicht einmal bewusst gewesen, dass ich die freundlichen Geschenkebringer überhaupt als real empfunden hatte. Und nun war es schon wieder vorbei. Tapfer murmelte ich: „Hab ich eh nie dran geglaubt.“
Aber dann kam der Tag, an dem ich, inzwischen 20-jährig, an der Universität Rostock meine erste Germanistikvorlesung besuchte, Thema: Erzähltheorie am Beispiel von Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. Super, dachte ich, kann ja gar nicht besser losgehen, das Studium. Der Professor betrat den Raum und fing gleich an zu dozieren. Sein erster Satz begann mit den Worten: „Die fiktive Figur des Hauke Haien…“ Und in mir brach eine Welt zusammen. Hauke Haien war erfunden! Er war gar nicht echt! Aber ich hatte bis in mein Erwachsenenleben hinein felsenfest daran geglaubt und sah mich nun einer Illusion beraubt, deren Verlust mich mehr schmerzte als jeder geplatzte Traum vom Weihnachtsmann.
Zum Glück habe ich mich dann recht bald erholt von dem Schrecken. Was blieb, war die unbedingte Liebe zu Storms Texten, insbesondere die zum unbeugsamen Deichgrafen. Noch heute hole ich das alte Reclamheft mit Wehmut und Ehrfurcht aus dem Bücherschrank und höre im Kopf die wunderbare Stimme meiner Schwester, wie sie mir Seite um Seite vorliest, während die Eltern sich auf den Vordersitzen lautstark über die Reiseroute streiten. Ein kleines Stück Norden für unterwegs.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Was in DIR lebt ist WAHR und ECHT und niemand kann es Dir rauben … Also: weiter auf dem SCHIMMEL reiten …