Kolumne von Susanne Falk.
Kürzlich las ich irgendwo, der deutschen Gegenwartsliteratur würde der Sinn für Magie fehlen. Na, wenn das kein Zufall ist! Wo alles immer und ausschließlich autobiografisch bzw. autofiktional sein soll, kommt die Magie zwangsläufig zu kurz. Denn wer Geister und Gespenster sieht, der bekommt in unseren Breitengraden keinen Büchnerpreis, sondern die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt.
Ich sage es ganz offen, das Storytelling geht mir gewaltig auf die Nerven. Alles muss immer mit der Biografie der Künstlerinnen und Künstler in Verbindung gebracht werden. In der Folge gilt Fiktion dieser Tage nicht viel. Und Geistergeschichten sind nun einmal sehr, sehr fiktional. Andernfalls würde man zurecht Schlimmes vermuten müssen, was den Gemütszustand des Autors oder der Autorin anbelangt. Kurz gesagt: Das Magische ist nur noch im Rahmen der Fantasyliteratur erlaubt. Dagegen stampfe ich jetzt mal beherzt mit dem Fuß auf und sage: Wie will man sich denn den Geistern der Vergangenheit stellen, wenn man ihre irrationale Existenz leugnet?
Alles wiederholt sich. Und aus Geschichte zu lernen wäre ja hilfreich, um die Zukunft ein Stück weit klüger zu gestalten. Doch was geschieht eigentlich mit dem, was wir nicht aufgearbeitet haben? Das, was nicht in unseren Geschichtsbüchern steht, existiert doch trotz alledem weiter. Traumata setzen sich über Generationen hinweg fort, entweder in unseren Köpfen oder auf unseren Landkarten. Und mit genauso einer Karte hat mein aktuelles Buchprojekt begonnen.
Hat man Ihnen im Geschichtsunterricht je etwas über die neun erloschenen Dörfer von Verdun erzählt? Aufgrund der extremen Belastung nach den langen Kriegsmonaten durch Giftgas, nicht explodierter Sprengkörper und nicht zuletzt auch Leichengiften musste man neun Dörfer am Ende für immer aufgeben. Die Orte heißen Beaumont-en-Verdunois, Bezonvaux, Cumières-le-Mort-Homme, Douaumont, Fleury-devant-Douaumont, Haumont-près-Samogneux, Louvemont-Côte-du-Poivre, Ornes und Vaux-devant-Damloup. Der Krieg ist hier also auch nach über 100 Jahren nicht wirklich vorbei, weil das Leben nicht mehr an diese Orte zurückgekehrt ist. Sie sind heute offizielle Gedenkstätten. Geisterdörfer.
Zahlreiche Tote, die in diesem Gebiet lagen, konnten nicht geborgen werden. Von den offiziellen Wegen abzukommen war und ist bis heute einfach zu gefährlich. Und hier begegnen wir meiner Hauptfigur zum ersten Mal: Ein Mann irrlichtert durch die Gegend um Fleury, jeden Schritt zaghaft setzend, weil jeder der letzte sein könnte. Können Sie ihn sehen? Seinen schleppenden Gang, den Spaten müde über die Schulter gelegt, am Gürtel baumelt eine Gasmaske? So beginnt diese literarische Reise, mit genau diesem Bild: Ein Film im Kopf, ein paar Worte auf Papier. Dieser eine ist geblieben, ein Kriegsveteran, um zu Ende zu führen, was andere begonnen hatten. Er hat eine Mission: Er begräbt die Toten. Im Hintergrund zeichnen sich dabei die vollkommen zerstörten Dörfer ab, deren Bilder von damals sich kaum von denen unterscheiden, die wir heute täglich in den Nachrichten sehen: Geisterdörfer.
Alles wiederholt sich. Wir werden nicht klüger. Dabei sammeln wir bis heute Daten und Fakten mit denen wir zu erfassen versuchen, was geschehen ist. Doch Unfassbares kann man nicht zwischen Statistiken klemmen. Wahnsinn lässt sich nur schwer beziffern. Öffnen wir dagegen der Fiktion Raum, können wir den Geistern der Vergangenheit begegnen, die uns nicht loslassen. Weil sie noch nicht erzählt wurden. Also erzählen wir sie. Es wird Zeit – für ein bisschen Magie. Vielleicht rettet die uns ja vor uns selbst.
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