Frühling in Wien sollte man einmal erleben. Am besten im Prater, Wiens historischem und höchst lebendigem Wiesengrund. Von Stephan Reimertz.
Der Park schien sich zu öffnen, aber bald standen wir vor einem Gatter und kamen nicht weiter. »Wo sind wir hier?« – »Im Anwesen der Wiener Sängerknaben.« Tatsächlich lag der musikalische Beweis schon in der Luft. Was wir für eine Flöte hielten, erwies sich beim Näherkommen als flötende Wienersängerknabenstimme, die aus einem offenen Fenster scholl und Im Prater blühn wieder die Bäume sang. Das war passend und unpassend zugleich, an diesem hochsommerlichen Frühlingstag das schickliche Lied, die konvenable Komposition und zugleich nicht ganz am Platze. Hat jemand den Duft des Wiener Frühlings so vollkommen in Musik gefangen wie Robert Stolz in seiner auf der ganzen Welt bekannten Weise? Dieser sympathische Meister, der zu Recht mit Johann Strauß und Franz Lehár in einem Atemzug genannt wird, ist ein musikalisches Paradoxon. Eine solch leichte Schwere und schwere Leichtigkeit wie in der Musik des 1880 geborenen Wiener Weltmannes kann es eigentlich gar nicht geben. Der Großmeister und Charmeur hat es vermocht, Strauß und Lehár zu beerben, und so zieht sich bei ihm noch durch den beschwingtesten Walzer eine dicke Süßlichkeit, in der die ganze Treibhausatmosphäre von Wien vollkommen umhüllt ist.
Im Prater blühn wieder die Bäume
Es leuchtet ihr duftendes Grün
Drum küss, nur küss, nicht säume
Denn Frühling ist wieder in Wien!
Wien ist ein Glücksversprechen, das sich selbst einlöst. Als wir nach wenigen Schritten aus dem Sängerknabengehege in den umgebenden Augarten gefunden hatten, tat sich uns ein popularisierter Barockgarten auf, ein aristokratischer Grund, der ganz vom Volk in Besitz genommen ist. Hier ist weit mehr erlaubt als im Jardin du Luxembourg in Paris, an den der Augarten vom Zuschnitt her erinnert, und so tollt und räkelt sich eine Jugend auf den Rasenflächen. Und der Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg wirkt, als hätte Lyonel Feininger ihn in den Park platziert, um einen vertrackten Raumeffekt zu erzielen und den Augarten im Kontrast erst recht zur Geltung zu bringen.
Nur zwanzig Fußminuten ist der Augarten, jene barocke Anlage, die auch die nach ihr benannte Porzellanmanufaktur beherbergt, von der mehr als zehnmal so großen Aulandschaft namens Prater entfernt, in der sich Wege, Wiesen und Gewässer zu einer Komposition stadtnaher Landschaft schmiegen, welche die Menschen seit Jahrhunderten anzieht und Bilder und Lieder inspiriert hat. Viele Wiener dürften ihre Existenz der berückenden Aulandschaft verdanken. Hier wurde geliebt und gedichtet, und nicht weniges, was wir im Theatersessel über uns ergehen lassen, wurde hier auf Spaziergängen ersonnen.
Um vom Augarten in den Prater zu gelangen, durchquert man einen der faszinierendsten Stadtteile von Wien, den II. Bezirk, die Leopoldstadt. Einst jüdisch-bürgerlich, beherbergt das abwechslungsreiche Quartier in seiner Mitte, der Gegend um den Karmelitermarkt, heute jene Schicht, die man andernorts les bobos nennt, also jenes auf Qualität und Nachhaltigkeit achtende, gar nicht schlecht verdienende junge Bürgertum, das Traditionen der Bohème mit denen der Bourgeoisie verbindet. Erfreulicherweise ist auch das Judentum wieder stark präsent und zeigt sich in seiner orthodoxen Variante unter schwarzem Hut, am Sabbat unterm Pelzhut. Echte Eleganz, so sagt man sich angesichts dieser ganz von ihrer Bestimmung durchdrungenen Männer, kann es nur geben, wenn eine Beziehung zu Gott besteht.
Bei keinem Spaziergang durch die Leopoldstadt kann man den Gedanken verdrängen, dass dies großstädtische und doch an vielen Orten so stille Stadtquartier gar nicht existieren würde, hätte der Zweite Weltkrieg länger gedauert. Hitler war der bei Juden beliebte Bezirk ein Dorn im Auge, und er hatte Albert Speer schon befohlen, ihn plattzumachen. Je weiter östlich wir kommen, desto populärer wird die Leopoldstadt, bis sich schließlich am Praterstern ein Sammelbecken von Menschen aus der ganzen Donaumonarchie auftut, ergänzt um Besucher aus der ehemaligen Belagerernation Türkei. Diese internationale Vereinigung nutzt den S-, U- und Fernbahnhof mit seinem Angebot an Läden und Cafés als permanenten Aufenthaltsort und Umschlagplatz. Eine der wenigen Gelegenheiten in Wien, nach 18 Uhr einzukaufen, bietet sich im großen Bahnhofs-Supermarkt; Kirchen und Gewerkschaften haben in Österreich großen Einfluss und halten, aus unterschiedlichen Gründen, am strengen Ladenschlussgesetz fest.
Auch als automobiler Verkehrsknotenpunkt verleugnet der Praterstern seine Bestimmung nicht, und so ist es umso erstaunlicher, dass nur wenige Schritte weiter sich die Au auftut und man über die große Hauptallee in eine Welt eintritt, in der die Verkehrsgeräusche bald verstummen.
Der Prater umhüllt den Besucher sofort. Am bequemsten geht man auf dem für Pferde aufgeschütteten Rindenmulch. Reiter lassen sich lange nicht blicken, dafür nutzen Dauerläufer den nachgiebigen Grund, und wieder einmal wird man auf die Einsicht gestoßen, dass der Kavallerist abgedankt hat und wir uns im Zeitalter des Infanteristen befinden. Die Schranke verläuft zwischen Papen und Hitler; dieser ist der Infanterist schlechthin. Als Flaneur in einem Park kann man ihn sich indes schlecht vorstellen, so wie seine Enkel und Urenkel, technokratisch getrieben, das Flanieren als Zeitverschwendung betrachten und auf den Sportschuh umgestiegen sind. Und so muss auch die gerade in Wien so differenzierte Zeremonie des Grüßens zwischen zwei sich begegnenden Rennern abgekürzt werden. Das unter Opernhabitués noch übliche Küss die Hand! oder Habe die Ehre! schrumpft hier auf ein klägliches Hallo! oder Hei! zusammen, wie man überhaupt feststellen muss, dass das alpine Servus! oder das im bayrisch-salzburgischen Raum übliche Griasdi! in Wien internationalen Kurzformeln Platz gemacht hat, wie schon das ortstypische Baba! seine Abkunft aus dem Englischen nicht verleugnet.
Pferde werden hauptsächlich des Abends durch den weichen Rindenmulch geführt; es sind die Fiakergäule, die aus der Stadt in ihre Stallungen zurückkehren. Hin und wieder schwingt ein Traber vorbei. Wer vom Typus her eher dem Kavalleristen entspricht und in diesem Jahrhundert immer wieder mit der Frage konfrontiert wird, wie man als Kavallerist unbeschadet durch das Zeitalter des Infanteristen kommt, wird finden, dass Wien, die Stadt der Lipizzaner, einer der letzten Orte für Kavalleristen ist. Hitler und das Marschieren, der Sportschuh und das Rennen; all das bleibt außen vor, wenn in Wien die abgesessenen Kavaliere ihr Terrain begehen: das Kaffeehaus, die Oper, den Ball. »Wer das ist, was man fesch nennt, wird in diesem Land bald Freunde finden«, stellte der bundesdeutsche Salonlöwe Karlheinz Graudenz in den fünfziger Jahren fest. Für Bundesdeutsche ist es in Österreich eh angenehm zu leben, weil alles, was in Bundesdeutschland gut funktioniert, hier ebensogut oder, aufgrund der kurzen Wege, noch besser und schneller klappt. Auch die von Bundesdeutschen über jeden Ort der Welt, egal ob Buenos Aires, New York oder Paris, vorgebrachten Klagen, dort sei es »dreckig«, und es gebe »zu wenig Grün«, würden in Wien kaum verfangen. Der Prater ist nur der größte, der Augarten der reizendste von unzähligen Parks, und bis in die Innere Stadt hinein werden Straßen von altehrwürdigen Bäumen gesäumt. Auch dies wird Bundesdeutsche in Wien friedlich stimmen: Viele Wiener sind bereit, entgegen internationalem Brauch, vor roten Ampeln stehenzubleiben. Der Grund ist freilich ein anderer: Wiener nehmen sich Zeit. Es hat nichts mit der masochistischen Lust zu tun, entsprechend einem pervertierten kategorischen Imperativ, Vorschriften ihrem Buchstaben gemäß zu erfüllen, damit ad absurdum zu führen und sich für die Gewalt zu entschädigen, die an einem verübt wurde, indem man sie an sich selbst verübt.
Wir wandeln durch den Rindenmulch in den Prater hinein, und das Gefühl, auf Wolken zu gehen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Das liegt aber nicht allein an den zerkleinerten Baumrinden unter unseren Füßen, sondern hat noch einen ganz einfachen Grund: Es ist Frühling, und wir sind in Wien!
Der erste, der uns begegnet, ist der Tanz- und Operettenkomponist Karl Michael Ziehrer, wenn auch nur in Form eines Denkmals. Die Bildhauerei rechter Hand von der Hauptallee stellt sich als merkwürdige Verbindung aus Jugendstil und einer Art heroischem Realismus dar, wie man ihn aus der Sowjetunion kennt. Ziehrer, der ein paar nette Mazurken schrieb, dessen Musik aber die Eleganz und Vielschichtigkeit, man könnte sagen: die Tragik von Strauß, Lehár oder Stolz abgeht, tritt hier als eine Art fröhlicher Geige spielender Stalin auf, und man wünscht sich, dass der stählerne Georgier genau so gewesen wäre und die Sowjetvölker in den Tanz statt in den Terror geführt hätte.
Bald zeigt sich links die Endhaltestelle der Trambahnlinie 1, die früher, wie die Tram A in Moskau, die Innere Stadt umrundete, die nun aber einen Schlenker zur Prater-Hauptallee macht. Die Distanzen in Wien sind klein, und so fährt man von hier aus um den ganzen Ring und ist rasch in der Oper. Auch die Hotels an der Ringstraße sind leicht zu erreichen; das Sacher, das Imperial oder das Palais Coburg, das seit einigen Jahren als gute Adresse gilt. In dem Palais aus dem neunzehnten Jahrhundert findet sich leider allerhand moderner Schnickschnack wie indirekte Beleuchtung und Spotstrahler an der Decke; es fehlt, mit einem Wort, an Anciennität.
Wien wäre nicht Wien, wenn es an der grünen Endhaltestelle der Linie 1 nicht einen Schanigarten gäbe, in dem man sich nach der Trambahnfahrt erst einmal mit einem Grünen Veltliner stärken kann, bevor man den Spaziergang in die Auen antritt, der leicht in eine Wanderung ausartet. Bäume, Sträucher, Teiche, sanfte Hügel und zahlreiche Lokale lockern die grüne Welt auf, und man glaubt, sich in einem Paradies zu befinden, in einem freilich, in dem man sich leicht verläuft.
Vom Mittelalter bis in die Regierungszeit Maria Theresias blieb der Prater dem Volk verschlossen und diente allein dem Adel als Jagdgrund. Ihr Mitregent Joseph II. öffnete die Wiesen für alle und musste sich dafür Kritik von Seiten des Adels anhören. Er spottete: »Wenn ich nur unter meinesgleichen verkehren wollte, müsste ich in die Kapuzinergruft hinabsteigen.« Die Gruft unter der gleichnamigen Kirche inmitten Wiens ist die prominenteste der Welt, zuletzt wurde Erzherzog Otto hier beigesetzt. Heute steht ein Mönch davor und verteilt Zwergenkalender.
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