Kolumne von Susanne Falk.
Zwischen einer halbleeren, leicht tropfenden Wasserflasche, einem überfüllten Federpennal, einem Haufen zerbröselter Radiergummis und zerknüllten Mathezetteln zog ich jüngst ein Buch aus der Schultasche meines kleinen Kindes, das mich sofort in nostalgische Gefühle ausbrechen ließ: Ronja Räubertochter!
Während meine Begeisterung groß war, hielt sich die des Kindes in Grenzen. Wilddruden waren ja noch okay, weil schön gruselig, stinkende Räuber auch, nona, aber die Lovestory? Mein Einwand, in dem Buch gäbe es doch gar keine Liebesgeschichte, quittierte das Kind mit einem müden Lächeln. „Als ob!“, sagte es und tippte mit dem Finger auf die entsprechende Seite, auf der Ronja Räubertochter in ihrem männlichen Gegenpart Birk angeblich ihren „Bruder“ gefunden hatte. „Das ist doch wohl eindeutig eine Lovestory!“ Man merke auf: Kindern soll man nichts vormachen!
Das kleine Kind bestand mit der Weisheit von elf Jahren darauf, dass das hier keine Bruder-Schwester-Geschichte war. Überhaupt, Jungs und Mädchen könnten nicht einfach nur Freunde sein, das ginge gar nicht. „Einer hat immer einen Crush auf den anderen“, stellte es ganz cool fest. Auch meinen Einwand, dass dies meiner persönlichen Erfahrung nach ganz und gar nicht so war, ließ es nicht gelten. Es war, als hätte man die 1980er wieder aufleben lassen, in einer wilden Räuberkinder-Harry-und-Sally-Variante, nur ohne Diner-Szene.
Im Nachhinein muss ich dem Kind recht geben, jedenfalls was die Räubertochter anbelangt. Da klingt sehr viel mehr Liebesgeschichte mit, als ich das in Erinnerung hatte. Was mich natürlich zum Nachdenken brachte: Welche Paarbeziehungen der Literatur hatte ich wohl noch falsch interpretiert? Hatte ich da was verpasst? Was war mit Pippi und Tommy, den fünf Freunden, den drei Fragezeichen??? Waren die wirklich alle nur Freunde oder bahnte sich hier unterschwellig bereits eine spätere Beziehung an? Konnte Jonas mit Peter und Bob wirklich nur gut Kirschkuchenessen oder mochten die sich über das übliche Maß hinaus? Und wer mit wem? Jonas und Bob, Bob und Peter oder doch Peter und Jonas? Nach fünf Minuten war ich mir sicher, dass die beste Paarbeziehung unter den dreien der leicht präpotente Jonas und der gutmütige Bob ergeben würden. Nach zehn Minuten stellte ich fest, dass ich einen Vollschuss hatte…
Das Gute ist, dass die Frage nach dem Beziehungsstatus von Ronja und Birk das Kind keinesfalls zu belasten schien. Geschwister im Geiste, Freunde oder zukünftige Liebhaber? Das war doch wohl egal, solange die bösen Wilddruden sie nicht bekamen, kein Räuber dem anderen mehr auf den Kopf haute und auch bitte keine Fohlen mehr vom Bären gerissen wurden (grenzwertig traurige Szene!). Offenbar kann man sich in einem gewissen Alter nicht vorstellen, was platonische Freundschaften sein sollen, aber nimmt die Erzählung trotzdem als gegeben hin. Wird schon einen Sinn haben, dachte sich das kleine Kind, legte das Buch beiseite und spielte lieber auf dem Handy. Ich aber schaue seitdem das Kinderbuchregal seltsam befremdet an und frage mich, ob man mit 47 eigentlich wirklich klüger im Leben ist als mit elf…
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My Books! „Brothers and Sisters„. Column by Susanne Falk
Between a half-empty, slightly dripping water bottle, an overstuffed pencil case, a pile of crumbled erasers, and crumpled math sheets, I recently pulled a book out of my little child’s school bag that immediately made me feel nostalgic: Ronia, the Robber’s Daughter!
While my enthusiasm was great, my child’s was limited. Wild harpies were okay, because they were nicely creepy, stinky robbers too, of course, but the love story? My objection that there was no love story in the book was met with a tired smile. „As if!“ the child said, pointing with a finger to the relevant page, where Ronia, the Robber’s Daughter, allegedly found her „brother“ in her male counterpart Birk. „That is clearly a love story!“ Note: You can’t fool children!
The little child insisted with the wisdom of eleven years that this was not a brother-sister story. After all, boys and girls couldn’t just be friends, it wasn’t possible. „One always has a crush on the other,“ it stated coolly. Even my argument that, in my personal experience, this was not at all the case, was not accepted. It was as if the 1980s had come back to life, in a wild robber-children-Harry-and-Sally-version, just without the diner scene.
In retrospect, I have to agree with the child, at least regarding the robber’s daughter. There is a lot more love story hinted at than I remembered. Which, of course, made me think: What other literary relationships had I misinterpreted? Had I missed something? What about Pippi and Tommy, the Famous Five, the Three Investigators??? Were they really all just friends, or was there a potential relationship brewing underneath? Could Jonas really just enjoy eating cherry pie with Peter and Bob, or did they like each other more than usual? And who with whom? Jonas and Bob, Bob and Peter, or Peter and Jonas? After five minutes, I was convinced that the best couple among the three would be the slightly pretentious Jonas and the good-natured Bob. After ten minutes, I realized I was completely nuts…
The good thing is that the question of Ronia and Birk’s relationship status did not seem to burden the child at all. Siblings in spirit, friends, or future lovers? That was all the same, as long as the evil harpies didn’t get them, no robber hit another on the head anymore, and no more foals were snatched by the bear (borderline sad scene!). Apparently, at a certain age, one cannot imagine what platonic friendships are supposed to be, but still takes the story as given. It must have a reason, the little child thought, put the book aside, and preferred to play on the phone. But since then, I have looked at the children’s bookcase strangely and wondered if at 47, one is really wiser in life than at eleven…
Pingback: Der Podcast am Sonntag: Meine Bücher! „Brüderlein und Schwesterlein“ |
Liebe Susanne,
eine großartige Idee, Kinderbücher erneut von Kindern lesen zu lassen, bzw. selbst zu lesen. Letzteres führte auch bei mir schon zu einigen Überraschungen. Mehr davon bitte!