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Mit Nietzsche durch Venedig: Eine tiefgründige Lektüre

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Literatur

Mit Nietzsche und Renate Müller-Buck durch die Lagunenstadt. Geistesgeschichtliche Gondelfahrt mit Tiefgang. Die ideale Lektüre, wenn Sie gerade aus Italien zurückkommen oder dorthin aufbrechen. Von Stephan Reimertz.

Renate Müller-Bucks kleine Monographie »…zitternd vor bunter Seligkeit« eröffnet Einblicke in die Beziehung zwischen Friedrich Nietzsche und Venedig. Zwischen 1880 und 1887 weilte der Philosoph dort insgesamt fünf Mal, was sowohl seinem Leben eine besondere Farbe verlieh, als auch Spuren in seinem Werk hinterließ. Als Migränist, Hochsensitiver und Hypochonder litt der Denker an enormer Empfindsamkeit für Klima und Luftdruck und war stets auf der Suche nach einem erträglichen Quartier, vor allem im Winter.

Einblicke in Nietzsches Leben und Werk in Venedig

Müller-Buck, Nietzsche-Kennerin und Mitarbeiterin an den Nachberichten zur Brief-Gesamtausgabe, bietet ein tiefenscharfes Bild des Dichters und Denkers in den engen Pfaden der Lagunenstadt dar. Sie stützt sich dabei auf des Philosophen Briefe und Berichte ebenso wie auf Erinnerungen seiner Weggefährten. So erhalten wir Einblicke in den Alltag Nietzsches in der Biberrepublik, seine Lektüren und die Überlegungen, zu denen ihn die Stadt inspirierte. Auch erfahren wir interessante Details, wie z. B., dass Nietzsche sich mit John Ruskin und seinen Stones of Venice nicht weniger beschäftigte als der eine Generation jüngere Marcel Proust und dass er sich mit William Turner befasste. Venedig war für ihn mehr als nur ein Zufluchtsort. Die Stadt wurde zum Elixier, das seine Schöpferkraft beflügelte und ihm half, seine Philosophie weiterzuentwickeln.

Im Gegensatz zu Byron, der hier Jahrzehnte zuvor als Lord mit vielen Angestellten, eigener Loge in der Fenice und zahllosen Affären gelebt hatte, gehörte der frühpensionierte Professor Friedrich Nietzsche einer bürgerlichen Gelehrten-Bohème an. Dennoch würde sich Müller-Bucks Monographie durchaus als Vorlage für einen Spielfilm eignen. Auch von Schatten lernen wir einiges; vor Erfindung des Kühlschranks stand der Wein in diesem kalt, der Göttertrank wurde selbst ombra genannt, und es bleibt uns überlassen, zu entscheiden, ob er es von hier aus in den berühmten Buchtitel geschafft hat. Die Autorin zitiert, wie Nietzsche über jene wahren Denker philosophiert, »die, weil sie das Tiefste gedacht, gerade das Lebendigste lieben müssen« und verzichtet an einer solchen Stelle nicht darauf, uns den Allusionsraum und Verweis auf das berühmte Zitat frei zu lassen, sondern reibt es uns unter die Nase, dazu noch die Verse in Fließtext zerlegt. Was würde Mazzino Montinari dazu sagen? Natürlich steht das Büchlein in der Tradition von unterhaltender Belehrung wie Voltaires »Newton für Damen«, (von Leibniz ins Deutsche übersetzt). Ein Buch wie Müller-Bucks gehört dem geistigen Leben an und ist geeignet, den Leser zur Lektüre des großen Denkers selbst oder zur gedankenreichen Reise in die Serenissima zu leiten.

»…zitternd vor bunter Seligkeit« ist nicht nur eine Biographie Nietzsches in Venedig, sondern auch eine Liebeserklärung an die Stadt selbst und eine Würdigung von Nietzsches Freund, des Schriftstellers und Komponisten Peter Gast. Wie Nietzsche hier die Musik des Freundes jener Richard Wagners entgegenschleudert, erinnert an die Demonstranten, die am 17. Juni 1953 mit Steinen auf Panzer warfen. Zudem gelang es Müller-Buck, endlich herauszufinden, dass der Eisenbahnpionier Friedrich List und der Klavierpionier Franz Liszt dieselbe Person sind (S. 85).

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Cover: Wallstein Verlag

Die melancholische Atmosphäre der Lagunenstadt im 19. Jahrhundert

Ihre lebendigen Schilderungen erwecken das Venedig des ausgehenden 19. Jahrhunderts und beleben die einzigartige Atmosphäre dieser Stadt, wenn auch das penetrante Präsens Sinn für Abstand vermissen lässt. Dafür ziert erlesenes Bildmaterial den Band. Während Hofmannsthal wenige Jahre nach Nietzsche ein völlig andersartiges Venedig entdeckte: die Stadt des 18. Jahrhunderts mit Karneval und Verwechslungskomödien, haben wir es hier mit der melancholisch eingefärbten Stadt der Kanäle zu tun. Das Büchlein ist im Zusammenhang mit Ulrich Drüners Erzählung von Wagners letzten Wochen in Venedig ebenso zu lesen wie mit Werfels Verdi-Roman, und natürlich denkt man auch an Thomas Mann. In angenehmer Schreibweise, wenn auch eher lehrhaft als elegant, ist ein unterhaltsames und informatives Buch gelungen, das sowohl Nietzsche-Leser als auch Liebhaber der Serenissima interessieren dürfte.

Renate Müller-Buck
»… zitternd vor bunter Seligkeit«: Nietzsche in Venedig.
Wallstein Erfolgstitel – Belletristik und Sachbuch; 2. Edition (2. Mai 2024), Göttingen
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With Nietzsche through Venice: A profound reading

With Nietzsche and Renate Müller-Buck through the Lagoon City. A philosophical gondola ride with depth. The ideal read if you’re returning from Italy or setting off there.

Renate Müller-Buck’s monograph, „…trembling with colorful bliss,“ explores the relationship between Friedrich Nietzsche and Venice. Between 1880 and 1887, the philosopher visited the city five times, which profoundly influenced both his life and work. As a migraine sufferer and highly sensitive individual, he struggled with extreme sensitivity to climate and air pressure, always seeking a tolerable place to stay, especially in winter.

Müller-Buck, a Nietzsche expert, provides a deep portrait of the thinker in Venice’s narrow streets. She relies on the philosopher’s letters and reports as well as the memories of his contemporaries. For Nietzsche, Venice was more than a refuge; the city inspired him and fueled his creative power.

This book serves as both a biography of Nietzsche in Venice and a love letter to the city. Müller-Buck’s vivid descriptions bring the Venice of the 19th century to life, offering insights into the unique atmosphere of this fascinating city.




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