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Nachruf: Im Kino mit Claus Peymann

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Von Stephan Reimertz.

Ich habe die Weltbühne zunächst indirekt kennengelernt, in einer Weise, die man beim Theater Mauerschau nennt. Meine Eltern gingen ins Bochumer Schauspielhaus zu jeder Peymann-Premiere, und ich war noch zu klein. Sie tauchten einen Abend lang ab, und am nächsten Tag unterhielten sie sich bei Tisch über ein seltsames Monster, das sie „Inszenierung“ nannten. Mein Blick flog wie in Wimbledon von einem zum andern. Statt Tennisbällen schossen sie einander Namen wie Shakespeare, Kleist, Sartre zu, wie Hannelore Hoger, Rosel Zech, Ulrich Wildgruber, Hermann Lause, Fritz Schediwy, Herbert Grönemeyer, Gert Voss, Kirsten Dene und Traugott Buhre, vor allem aber immer wieder Claus Peymann; geheimnisvolle Begriffe wie Bühnenbild, Dramaturgie, Requisite, Kulisse, Souffleuse u. v. a. Dann war auch von Mädchen die Rede, die man gerne einmal kennengelernt hätte, wie von einem gewissen Käthchen von Heilbronn, einem Fräulein Julie, oder Persönlichkeiten, von denen man annahm, dass sie bald einmal zum Abendessen vorbeikommen würden, wie z. B. einem Herrn Prinzen von Homburg. Auf jeden Fall schien das ein fideles Haus zu sein, dieser nierenförmige rote Backsteinbau am Eingang von Bochum. Mit seiner furchterregend hohen Fensterfront wirkte das Schauspielhaus wie ein Kraftwerk, ein Umspannwerk verborgener Werte, die allerdings sehr hoch gehandelt wurden. Wie Alexander Kluge, wenn er von der Oper spricht, konnte man es ein „Kraftwerk der Gefühle“ nennen. Man konnte hier sogar einen Schritt weitergehen als der kluge Herr Kluge und behaupten, dass sich die Elektrolyse auch in den Menschen vollzieht, die nur vorbeigehen, die das Haus nie betreten haben. Wiener, die an ihrem Opernhaus vorbeispazieren oder mit der Einser Tram vorbeifahren, wissen, wovon ich spreche. Ein echter Wiener, der in der Elektrischen seine Oper passiert, ist elektrisiert, auch wenn er nie hineingegangen ist. Und das liegt nicht an der Elektrischen.

Unter einer Vorstellung konnte ich mir freilich trotzdem nichts vorstellen. Später sollte ich erfahren, dass ich mit solcherart Imaginationsschwäche mitnichten allein dastand. Viele Regisseure können sich unter einer Vorstellung nämlich auch nichts vorstellen. Im Regietheater ist die Regie eben oft nur Theater. Kein Wunder, wenn dann der Zuschauer vor der Inszenierung steht wie der Ochs vorm Berg oder wie Klein-Stephan vor dem Bochumer Schauspielhaus. Durch die Ungnade der späten Geburt kam ich also nicht in den Genuss einer Inszenierung von Claus Peymann am Bochumer Schauspielhaus. Allein ich sollte entschädigt werden, indem ich, wie einst König Ludwig von Bayern, zu dem Privileg einer Privataufführung kam.

Vorher muss ich noch verraten, dass mich das schulische Schicksal tatsächlich für sechs Wochen in die unmittelbare Nachbarschaft des mysteriösen Hauses versetzte. Ich wurde aufs Graf-Engelbert-Gymnasium eingeschult, Königsallee 77-79. Das Schauspielhaus Bochum befindet sich in der Königsallee 15, nur 700 m entfernt. Zu Fuß benötigt man ungefähr zehn Minuten. Doch Welten liegen dazwischen! Während wir auf der Penne lateinische Grammatik und griechische Vokabeln paukten, konnten sich die Glücklichen ein paar Häuser weiter in ihren Theaterproben mit Plautus und Aristophanes amüsieren. Nach sechs Wochen zogen wir vom Ruhrgebiet, dem industriellen Zentrum Europas, in eines seiner Finanzzentren. Meine theatralische Sendung sollte sich also erst an Goethe, den Städtischen Bühnen Frankfurt, Operninszenierungen von Christoph von Dohnányi, Hans Neuenfels und Ruth Berghaus, am Tanztheater von William Forsythe, entzünden. Doch in diesen sechs Bochumer Wochen vermochten die Lehrer des Graf-Engelbert-Gymnasiums, wie niemand zuvor und niemand danach, den Rausch des Lernens in mir zu wecken. Was hätte aus mir werden können, wenn ich auf dieser Schule geblieben wäre! Dabei gab es morgens strenggenommen keinen Grund aufzustehen, denn es war eine Jungsschule. Die Mädchen standen am Zaun der benachbarten Schillerschule. Wir nannten sie „das Nest“.

Viele Jahre später ging meine alte Freundin Cornelia Koppetsch mit mir in Berlin ins Kino. (Ja: die Cornelia Koppetsch, der man in der Zeit der Cancel Culture einen Plagiatsprozess ans Bein band, da ihre Analyse der AfD den Leuten nicht gefiel. Hätten sie sie doch sorgfältiger gelesen!) Während ich im Foyer des kleinen Off-Kinos auf sie wartete, kam ein Mann herein. Nein; man muss sagen: Er trat auf! Wenn Sie mich fragen, wie er aussah, kann ich nur erwidern: Bedeutend! So fand er sich selbst auch. Er füllte den bescheidenen Raum aus und schien von jedermann zu erwarten, dass er ihn kenne. Leise, aber doch so, dass es jeder hören konnte, fragte er das Mädchen hinter der Glasscheibe, ob seine Sekretärin die Karte für ihn habe hinterlegen lassen.

Im Saal saß er ein paar Reihen hinter uns. Und ich muss sagen: Das Seufzen, Stöhnen und Ächzen, mit dem er den Film kommentierte, war aufschlussreicher als der Film selbst. „Clouds of Sils Maria“ ist ein überaus bescheidenes Machwerk, das nur eines beweist: Französische Filme sind auch dann nicht spannender, wenn sie englische Titel haben. Der Himmel über Sils Maria war tatsächlich nicht wolkenfrei, der Film selbst aber sinnfrei. Ich will ja nicht behaupten, die Hauptdarstellerin sei begabungsfrei. Juliette Binoche ist eine Schauspielerin, and Brutus is an honourable man. Später wurde der Streifen gar für die Goldene Palme nominiert. Mich brachte er höchstens auf die Palme. Den Stöhner und Seufzer hinter uns offenbar auch. Der Film schreckt vor keinem Klischee zurück, nicht einmal vor Pachelbels Kanon in D-Dur. Nur ein Musikfremder, der auch noch kinofremd ist, kann sich das als Filmmusik aussuchen. Es tat weh: Die geliebten Berge von Sils Maria, in denen einst Nietzsche auf einsamen Spaziergängen zu seinen Gedanken fand, das wunderbare Grand Hotel, das alles wurde einem in der Banalität des hochalpinen Laienspiels madig gemacht.

Aber zum Glück war da ja unser Laut-Kommentator aus dem Off. Sein Seufzen, Ächzen und Stöhnen setzte stets an der richtigen Stelle ein. Dieser akustischen Kommentare stellte an diesem Abend das dramatische Geschehen dar, nicht der Film. Sie stammten von einem, der es gewohnt ist, dass man auf ihn hört, von einem, der es nicht gewohnt ist, eine Szene vom dunklen Zuschauerraum aus unkommentiert zu lassen. Und auf einmal wurde mir klar, wer das war. Das war niemand anders als Claus Peymann, der uns mit seiner kleinen Lautregie zeigte, dass er seinen Ruf als bedeutender Regisseur zurecht genießt. Etwa nach der Hälfte des Films verließ er lautstark den Saal; dramaturgisch genau an der richtigen Stelle, denn der Himmel über Sils Maria sollte an diesem Abend nicht mehr aufklaren. Sein unbestechliches Gefühl für Dramaturgie bewahrte Claus Peymann davor, einen weiteren Tiefpunkt des europäischen Kinos bis zur bitteren Neige auskosten zu müssen.

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