Ein französisches Album als aktuell beste musikalische Collage des Berlins der 20-er Jahre. Von Ingobert Waltenberger.
„Ja der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht“ lautet einer der bekanntesten Verse aus Weills/Brechts „Dreigroschenoper“. Die aus Marseille stammende Sängerin Marion Rampal, mittlerweile eine der französischen Größen des Jazz, interpretiert auf ihrem neuen Album „Bye Bye Berlin“ ganz frech und frei Chansons und Lieder einer die Zeiten teilenden Epoche zwischen zwei Weltkriegen. Da sind Neutöner wie Hanns Eisler oder Alban Berg dabei, aber auch diejenigen, die mit der Zwölftonmusik weniger anfangen konnten und in der Tonalität und Volksnähe der Eingebung neue Wege des Ausdrucks und der musikalischen Deutung ihrer Zeit suchten. Darunter fallen Kurt Weill, Erwin Schulhoff, Michael Spoliansky oder Friedrich Holländer.
Berlin war das Epizentrum der Zwanzigerjahre, nichts weniger als der Schauplatz der europäischen Moderne. Eine bipolare Stadt des Überschwangs und der allzu frei gelebten Libertinage genauso wie ein Melting Pot an Kreativität, der künstlerischen Neugierde und der stilistischen Vielfalt.
Das Album „Bye-Bye Berlin“ ist deshalb so besonders, weil die Stücke von einem Streichquartett, dem Quatour Manfred begleitet werden. Diese seit 30 Jahren bestehende Formation bestreitet ebenso die rein instrumentalen Tracks, wie Erwin Schulhoffs „Chanson“ aus den Cinq Etudes de Jazz, dessen „Andante molto sostenuto“ aus dem ersten Streichquartett, einen Satz aus Kurt Weills Streichquartett in B-Moll oder Hanns Eislers „Solidaritätslied“ ohne Worte. Besonders schräg klingt die nur 1 Minute 25 dauernde „Ouvertüre zum Fliegenden Holländer“ in einer Fassung von Paul Hindemith. Das darf und soll so klingen, als ob „eine schlechte Kapelle morgens um Sieben am Brunnen vom Blatt spielt“.
Marion Rampal erläutert im Booklet, dass sie die Instrumentierung im Hinblick auf die Klangvielfalt so abwechslungsreich wie nur möglich gestalten wollte, wobei der spezifische Klang des Streichquartetts seine zentrale Bedeutung behalten sollte. „Mit den Stilmitteln der Singstimme und dem Einsatz ihrer verschiedenen Tonlagen sowie dank Raphaël Imberts (Saxophon, Altklarinette) musikalischem Ansatz, der dazu einen originellen Gegensatz bietet, hoffen wir, eine Freiheit in Stil und Ausdruck zu erlangen, die sich den musikalischen Verrücktheiten der Zwanzigerjahre in Klassik, Jazz und Kabarett annähert. Unser Programm soll auch den Geist der großen Kabarett-Sängerinnen Lotte Lenya und Marlene Dietrich atmen, die es inspiriert haben und das wir nicht beschließen, ohne an das erzwungene amerikanische Exil (der meisten Komponisten dieses Repertoires) zu erinnern und zugleich an das Berlin nach 1945 und sein trauriges Schicksal als zerstörte, geteilte Stadt.“
„Neue Sachlichkeit„ heißt die Stilrichtung des Albums, die den Expressionismus ab 1914 ablöste. Kein subjektives Pathos, keine Schwülstigkeit im Ton sind auszumachen, ein Realismus hält Einzug, der sich später im Exil und nach der Rückkehr der vielen zur Auswanderung Gezwungenen weiter gepflegt werden sollte.
Marion Rampal singt in französischer, deutscher und englischer Sprache, wobei sich ihre Aussprache der deutschen Texte durch den berühmten charmanten Tonfall auszeichnet, der Franzosen so oft zu eigen ist, wenn sie sich in unserer Sprache versuchen. Großartig und von dichter Atmosphäre berühren die Nummern „Youkali“, „Die Moritat von Mackie Messer“, „Die Ballade vom ertrunkenen Mädchen“, oder „Barbara-Song“ von Kurt Weill. Durchaus melancholisch stimmend gefallen die großartig rauchig gehauchten Lieder „The Lavender Song“ von Arno Billing bzw. die Hits „Falling in love again“, Black Market“ oder „The Ruins of Berlin von Friedrich Holländer. Als Abschluss darf Alban Bergs „Nachtigall“ die ganze Nacht singen, sodass von ihrem süßen Schall, in Hall und Widerhall die Rosen aufgesprungen sind. Wer nachhören will, wie das möglich ist, sollte sich Bye Bye Berlin anhören.
Marion Rampal
Bye-Bye Berlin
Harmonia M (Harmonia Mundi), 2018
In die CD hineinhören
Coverabbildung ©Harmonia Mundi
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