Von Ingobert Waltenberger.
Der russisch-israelische Pianist Boris Giltburg lässt mit einer traumhaft schönen und gleichzeitig spannenden Neueinspielung eines Schlüsselwerks von Franz Liszt aufhorchen. Seine Interpretation der h-Moll Sonate ist ja schon beim Label Orchid erhältlich. Nun begibt er sich, ganz dem jetzigen Lisztomania-Taumel gemäß, wie kürzlich vor ihm Daniil Trifonov, auf die Spuren der 12 Études d’exécution transcendante. Giltburg spielt die 1852 fertig gestellte Version. Es handelt sich um die ,authentische Fassung‘, der zwei massive Revisionen des Zyklus des erst 15-jährigen Liszt vorangegangen waren, wobei das motivische Material im Kern erhalten blieb. Im Gegensatz zu den ersten beiden Versionen sind den zwölf Études nun programmatische Titel, wie „Paysage“, „Mazeppa“, „Feux follets“, „Vision“, „Eroica“, „Wilde Jagd“ oder “Chasse-neige“ beigestellt.
Robert Schumann, der den Zyklus schätze und lobte, wies auf die enormen technischen Anforderungen des Solisten hin. Obwohl Liszt bei seiner Bearbeitung manch virtuose Vertracktheit glättete, insgesamt kürzte, strukturell polierte und sich um die klangliche und atmosphärische Verfeinerung sorgte, geht von der Mehrzahl der Stücke eine greifbare bis rohe Körperlichkeit aus. Technik wird hier aus Sicht von Boris Giltburg zum erzählerischen Element, ist primär Mittel der Verbildlichung, der pastosen Farbgebung. Als Beispiel mag die Etüde Nr. 12 “Chasse neige” dienen, die eine Übung in Sachen Tremolotechnik sein könnte. Lautmalerisch gelten die zitternden Notengirlanden vom Ausdruck her aber klarerweise dem Tanzen der Schneeflocken, zuerst sanft und sich im Verlaufe der Durchführung zu einem schreckeinflößenden dichten Schneetreiben steigernd.
Genauso wie in der erzählerischen Direktheit setzt Boris Giltburg in Sachen orchestrale Effekte hohe Standards. Gleich, ob es sich um die Fanfaren in “Eroica”, die Waldhörner in der “Wilden Jagd” oder das Glockenspiel in den “Harmonies du soir” handelt, der Hörer staunt, was so ein Klavier alles kann. Natürlich unter der Voraussetzung, dass der Pianist – wie hier Giltburg – den goldrichtigen Anschlag und eine ebensolche Artikulation, zudem eine wohldosierte Verwendung des Pedals findet und insgesamt direkt in das poetische Herz der Komposition trifft. Falls die Etüden Liszts etwas von einem Instruktionscharakter haben, dürfte dieses Opus summum der hochromantischen Klavierkunst wohl als Meisterklasse für die Allerbesten gelten.
Ein direkter Hörvergleich zwischen Trifonov und Giltburg geht für mich nach Punkten zugunsten von Giltburg aus. Giltburg vermag mit seiner zupackenden Art, der extremen dynamischen Ausdeutung sowie kühnen Rubati eine innere Dramatik, ein Feuer zu entwickeln, das aus den Etüden Tondichtungen macht – nicht nur in dicken Ölfarben gespachtelte Gemälde, sondern dreidimensionale wie in Stein gemeißelte Reliefs. Trifonov legt die Etüden wesentlich lyrischer an, konzentriert sich auf die Feinzeichnung auch dort, wo wilde und ungebändigte Energien am besten investiert sind. Die Kühnheit der Lisztschen Visionen, deren Modernität als fantastische, packende Studien, ihre transzendente Kraft kommen bei Giltburg optimal zum Ausdruck.
Giltburg rahmt die Etüden mit der Konzertparaphrase auf Verdis “Rigoletto”, von Liszt für seinen Schwiegersohn Hans von Bülow geschrieben und der mittleren der drei Konzertetüden mit dem Titel “La legierezza”. Die Opernparaphrase auf Rigoletto ist nicht ein Potpourri aus verschiedenen Nummern der Oper, sondern zielt ausschließlich auf das berühmte Quartett im dritten Akt ab, wo Gilda samt ihrem Vater Zeugen des Flirts des untreuen Herzogs mit Maddalena werden. Auch hier verdichtet Giltburg meisterlich die vier Stimmen in der unheimlichen nächtlichen Szene.
Eine CD für die einsame Insel? Für Freunde von Klaviermusik auf jeden Fall eine ernst zu nehmende Option.
Boris Giltburg, Klavier
Franz Liszt: Études d’exécution transcendante
Naxos 2019
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