Von Ingobert Waltenberger.
1918 gründete Arnold Schönberg den Wiener Verein für musikalische Privataufführungen mit dem Ziel, Künstlern und Kunstfreunden eine wirkliche und genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen und seinen Mitgliedern ideale Bedingungen zur Auseinandersetzung mit eben diesen aktuellen Werken zu bieten.
Eine intensive Probenarbeit und mehrere Aufführungen hintereinander aus pädagogischen Gründen waren die Mittel zum Zweck. Für die Aufführung im kleineren privaten Rahmen war es dann nur folgerichtig, dass große Werke für Orchester und Solisten für kleine Ensembles bearbeitet wurden. Ein eigenes Orchester gab es nämlich nicht. Bis zur Auflösung des Vereins 1921 – übrigens wegen Geldmangels aufgrund der galoppierenden Inflation – wurden in 117 Konzerten 154 zeitgenössische Werke von über vierzig Komponisten aus ganz Europa mit unterschiedlichsten Stilrichtungen präsentiert.
Journalisten war der Zutritt ganz versagt, von Skandalisierungen hatte man genug. Auch Beifalls- und Missfallenskundgebungen waren unerwünscht. Damit die werten Vereinsmitglieder nicht von einem besonders avantgardistischen Programm abgeschreckt wurden, wurde es schlicht und einfach vorher nicht bekanntgegeben. Die Eintrittspreise waren moderat.
Arnold Schönberg selbst ergriff die Feder für Arrangements von Strauß-Walzern, seinen Orchesterstücke op. 16 sowie den Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Bei Mahlers „Lied von der Erde“ hatte Schönberg mit der Bearbeitung für 13 Instrumentalisten begonnen, Anton Webern sollte weitermachen. Schließlich war es der Musikologe Rainer Riehn, der die Arbeiten 1983 fertig stellte. Uraufgeführt wurde dieses „Lied von der Erde“ für Kammerorchester im Juli 1983.
Die vorliegende Aufnahme dieser Musik, die in chinesischer Poesie Mahlers und unsere Welt der Einsamkeit, der Todesfurcht, des ephemeren Charakters unserer Existenz umkreist und nicht zuletzt der verlorenen Jugend nachtrauert, entstand im Rahmen des Festivals von Saint-Denis. Maxime Pascal dirigiert „Le Balcon“, ein 2008 gegründetes Kollektiv, das sich aus einem Orchester, Sängern, Tänzern und Künstlern aus verschiedensten Disziplinen zusammensetzt. Das „Lied von der Erde“ ist das zweite Schallplattenprojekt nach Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in einer freien Adaption von Arthur Lavandier 2016.
Für den musikalischen Direktor des Ensembles Maxime Pascal ist es der Einsatz des Harmoniums, der das Schönberg-Arrangement so attraktiv macht. Schönberg hat aus Mahlers Partitur die oberen Stimmen der verschiedenen Instrumentengruppen bewahrt und die übrigen dem Harmonium überantwortet. Was sich auf dem Papier so sonderbar unverträglich liest, schafft in der Umsetzung unerhörte Farbtöne einer besonderen Schönheit.
Le Balcon agiert auf der instrumentalen Ebene maßstabsetzend in Sachen dramatischer Konfiguration, lautmalerischer Effekten, sarkastischem Aufbegehren, diabolischer Grelle, aber auch in der ruhig ausklingenden Naturbeschwörung am Ende vom Abschied: “Die liebe Erde überall blüht auf im Lenz und grünt aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht die Fernen! Ewig…ewig.“
Man hat sich bei den Solisten für einen Bariton und einen Tenor entschieden. Stéphane Degout lässt mit seinem warmen und sonoren Bariton die Lyrik der Texte und die markante Stimmführung Mahlers pastos aufblühen. Einige schärfer akzentuierte Konsonanten hätten der besseren Verständlichkeit des Textes sicherlich gutgetan. Leider ist Kévin Amiel mit seinem flackernden Tenor weder stilistisch, noch von der Tessitura, noch von der Aussprache her in der Lage, adäquat zu agieren. Wortundeutlicher geht es gar nicht. Wie schade für den Gesamteindruck, zumal sich die von der Aufmachung her sehr aufwendige Box mit getrennten und farbig illustrierten Foldern für alle sechs Teile des Werks und einem informativen Booklet (in englischer und französischer Sprache) individuell positiv von üblichen Produktionsmustern abhebt.
Gustav Mahler: Das Lied von der Erde
Fassung für Kammerorchester von Arnold Schönberg, vollendet von Rainer Riehn 1983;
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