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Bruchstücke einer großen Konfession: „Höhenrausch“ am Gärtnerplatztheater

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Unabhängig davon was die Choreographen selbst sagen, stellt die Ballettwelt im Staatstheater am Gärtnerplatz in München ein zusammenhängendes Pandämonium dar. Auch der Höhenrausch des Tanzschöpfers Georg Reischl trägt dazu bei. Er ist in Wirklichkeit ein Tiefenrausch. Von Stephan Reimertz.

Die Musik Anton Bruckners ist keine Tanzmusik. Das gilt auch für die vermeintlich zugänglichste seiner Symphonien, die 4. in Es-Dur von 1874. Wer sie als Musik für das moderne Tanztheater verwendet, hat ein Problem. Der Charakter von Bruckners Werk ist universell, so kann ihm eine andere Kunstform von vornherein nichts Gleichwertiges entgegenstellen. Eine solche Musikauswahl ist also sowohl formal als auch inhaltlich eine unmögliche Entscheidung. Das einmal zugegeben, schlagen sich Georg Reischl und das Tanzensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters dann allerdings wiederum bewunderungswürdig in ihrem Ballettabend Höhenrausch der am 1. Juni Premiere hatte. Notwendigerweise kann die abstrakte Choreographie nur einen einzigen Aspekt aus Bruckners allumfassender Musik herausgreifen. Aber für welchen entscheiden sie sich?

Joel Distefano, Hikaru Osakabe, Jana Baldovino, Amelie Lambrichts © Marie-Laure Briane

Tanz gegen Musik

Wie von einem Wiederholungszwang getrieben leistet auch Georg Reischl seinen Beitrag zu jenem Tanzpandämonium mit nekrophilen Zügen, das sich seit Jahren am Gärtnerplatz entfaltet. Man denke nur an den düsteren Gemeinschaftsabend Jean & Antonín von Michael Keegan-Dolan und Karl Alfred Schreiner, der sich ebenfalls mehr todesverliebt als todesmutig einer vollkommen ungeeigneten Musikauswahl entgegenstemmte wie einer schweren Grabplatte. Die 8. Symphonie von Antonín Dvořák und die 7. von Jean Sibelius sind als Musik für das moderne Tanztheater beinah so wenig geeignet wie die 4. von Bruckner. Auch Marco Goeckes Choreographie La Strada nach dem Film von Fellini mit der Musik von Nino Rota war ein abstrahiertes Handlungsballett und zugleich ein Totentanz. Hier vertrug sich allerdings die semantisch nicht ganz so gewaltige Filmmusik besser mit dem, freilich irritierend nekrophilen Gehalt.

Die Tanzschöpfungen von Schreiner, Keegan-Dolan und jetzt Reischl, die es allen Ernsts mit der Symphonik des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts aufnehmen, wirken freilich, als hätten sie alle es auf ein solches Himmelfahrtskommando gerade abgesehen. Auch Dirigent Michael Brandstätter und das Orchester des Staatstheaters befinden sich wieder in der wenig beneidenswerten Lage, als Theaterorchester ein Hauptwerk der symphonischen Literatur stemmen zu müssen. Sie gehen die Herausforderung mutig an, und so gelingen gerade die pastoralen und jagdlichen Teile von Bruckners keineswegs wie eine Tondichtung um 1900 aufzufassender Symphonie. Im Gegensatz zu den hier genannten düsteren und dämonologischen Choreographien stand übrigens das »Traumballett« Undine des Chefchoreographen Karl Alfred Schreiner, das eine Deutung der Existenz selbst wagte und als die bedeutendste Ballettschöpfung am Gärtnerplatz der letzten Jahre bezeichnet werden darf.

Joel Distefano, Hikaru Osakabe © Marie-Laure Briane

Im Zwischenreich

Man darf sich von der Bergsemantik, die Georg Reischl präsentiert, und dem Untertitel »Ein Alpenballett« nicht zu sehr ablenken lassen, auch wenn er uns zur Begrüßung einen Gazevorhang mit Bergdorf hinhält. Mit der alpinen Topographie, die wir schon neulich in Giselle bewundern durften, hat dies tiefschürfende Ausloten der dämonischen Seite des Seins wenig zu tun. Reischl setzt primär auf eine abwechslungsreiche Gruppenchoreographie, aus der sich motivartig eine Leitfigur herausstellt. In Röcken, im Ringkampf, vor einer strohigen Urmutter oder hinter den Kulissen loten die Einheiten die Seinsbedingungen zwischen Leben und Tod aus. Auch im Höhenrausch erringen die Tänzer durch ihren Enthusiasmus und ihre Empathie den Sieg über ein unmögliches Konzept. Allen genannten Choreographie kann man zugute halten, in den letzten Jahren die Grenzen des tänzerisch Darstellbaren weiter hinausgeschoben zu haben. Eine zwanghafte Nekrophilie in vielen Produktionen hat allerdings den Gärtnerplatz zu einem der seltsamsten Orte des gegenwärtigen Tanztheaters gemacht. Ob es jetzt nicht doch an der Zeit für einen künstlerischen Paradigmenwechsel ist?

Weitere Termine: hier

Gärtnerplatztheater
Gärtnerplatz 3
80469 München

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Fragments of a great denomination: „Höhenrausch“ at the Gärtnerplatztheater
The ballet world at Gärtnerplatztheater in Munich is a coherent pandemonium. Choreographer Georg Reischl’s intoxication with dance adds to it. Using Anton Bruckner’s music for modern dance theater poses a problem. Nevertheless, Reischl and the dance ensemble present their ballet evening „Intoxication of Heights“ admirably. Reischl’s contribution has necrophilic undertones, joining other unsuitable musical selections at Gärtnerplatz. Amidst the dark choreographies, Karl Alfred Schreiner’s „Dream Ballet“ Undine stands out. „Intoxication of Heights“ explores the conditions between life and death through diverse group choreography. The dancers triumph over an impossible concept with enthusiasm and empathy. The boundaries of dance have been pushed, but the Gärtnerplatz’s compulsive necrophilia makes it a peculiar place in contemporary dance theater. Perhaps it’s time for an artistic paradigm shift.

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