Von Stefan Pieper.
In vielen Ländern reagieren junge Komponistinnen und Komponisten in ihren mutigen Arbeiten auf die Schwingungen unserer Wirklichkeit. Die Wittener Tage für neue Kammermusik – neben Donaueschingen wohl das traditionsreichste Festival für Gegenwart mit internationaler Ausstrahlung – bleiben auch künftig ein unverzichtbarer Entfaltungsraum für den freien Geist. Patrick Hahn übernimmt seit der aktuellen Festivalausgabe das Erbe des langjährigen Leiters Harry Vogt und denkt das Konzept weiter, ohne dabei Bewährtes umzustürzen.
Die aktuelle Ausgabe vereinte eine große Bandbreite aktueller Kunstmusik unter einem losen Motto, das auf die aktuelle Weltlage anspielt: „Schnitt.Punkte, Flucht.Punkte, Kipp.Punkte etc…“ Insgesamt zählt in Witten vor allem der unmittelbare künstlerische Input aus aller Welt und weniger die Inszenierung eines Themas. Verlass ist hier auf einschlägig bekannte Ensembles und Protagonisten – ohne die „Witten“ wohl kaum das wäre, was es seit vielen Jahr(zehnt)en ist.
Hier ist vor allem das Klangforum Wien zu nennen – und das bescherte der aktuellen Festivalausgabe einen spektakulären Eröffnungsabend. Ein Riesenkompliment gilt den Wienern, innerhalb eines Konzertabends in so viele diverse Klangkonzepte und Ansätze einzutauchen. War Eivind Buenes Stücke „Doubles“ bei aller neutönerischer Konsequenz noch so etwas wie eine lyrisch-getragene Eröffnung, so überführte Yann Robins „Toccata“ einen uralten Gattungsbegriff in zeitlose gestalterische Freiheit, die vor allem den beteiligten Pianisten herausforderte. Die junge Kroatin Sara Glojnaric nimmt das akustische kollektive und auch individuelle musikalische „Alltagsgedächtnis“ von Heute als Materialgrundlage, um in ihrem feinnervig collagierten kammerorchestralen Geflecht Stellung zu beziehen. Reden hat viel mit Dramaturgie und Geste zu tun. Das ist der Ansatz des Amerikaners George Lewis, der gleich einen großen weltanschaulichen Disput modellhaft seziert, um eine tumulthafte sprachliche Semantik vielen herumwirbelnden Blas- und Schlaginstrumenten auf den Leib zu schreiben. Und auch das bot aufregende kompositorische Substanz, die viel mehr als heiße Luft war.
Die Stadt Witten ist eine kleine Großstadt am Rande des Ruhrgebietes und wohl eher als Arbeiterstadt bekannt. Gleichwohl ist sie mit herausragenden Bildungsinstitutionen inklusive gleich zwei architektonisch kunstvoller Rudolf-Seiner-Schulen gesegnet, die schon lange Spielstätten des Festivals sind. Eine davon wurde unter anderem am zweiten Festivaltag zum musikalischen Erfahrungsraum wie kein anderer. Die vier Streicher vom Quatuor Diotima interpretieren zwei raffinierte neue Werken von Marton Illés und Bastien David. Mehr Kunst der Verfeinerung auf Streichinstrumenten geht wohl kaum – hätte man ausrufen können beim Miterleben dieser extrem filigranen Texturen, diesem aufregenden Umgang mit Glissandi und vielen weiteren instrumentalen Grenzerfahrungen.
Instant Composing als basisdemokratischer Prozess
Die Trennung zwischen komponierter „Neuer Musik“ und freier (Jazz-) Improvisation ist schon lange nicht mehr haltbar. Das Plädoyer für diese Einsicht liefert eines der berufensten Improvisationstrios im Land, nämlich Christopher Dell (Vibrafon) Christian Lillinger (Schlagzeug) und Jonas Westergaard (Kontrabass). Die reine Wort-Improvisation greift hier eigentlich schon wieder zu kurz. Sie selbst definieren ihr Spiel als basisdemokratisches „Instant Composing“ im offenen Prozess. In Witten fusionierten die drei in Berlin ansässigen Musiker mit einer Besetzung aus dem Klangforum Wien – und ja, das Beste aus diesen beiden Welten war nun nicht mehr voneinander getrennt. Durchaus gebärdete sich diese erweiterte Interaktion nicht mehr so schroff und radikal, wo sich jetzt eine neue klangmalerische Ebene voller Wärme ausbreitete.
Es kann zu einer Herausforderung werden, in Witten über viele Stunden lang konzentriert hörend an so viel geleisteter musikalischer Grundlagenforschung zu partizipieren. Da ist es jedes Mal eine willkommene Auflockerung, wenn das märkische Museum zum interaktiven Raumklangkonzert einlädt, bei dem man sich frei bewegen kann. Was in der Regel auch die Musikerinnen und Musiker während ihres Spiels tun. Christian Masons „Invisible Threads“, eine Performanceinstallation für mobile Stimmen, Bassklarinette, Akkordeon und Streichquartett toppte von seinen Dimensionen her nochmal alles bislang Dagewesene. Zur Besetzung gehörte das Ardititti-Quartett – wohl das dienstälteste und berühmteste Gastensemble in Witten überhaupt. Alle spielen und singen in ständiger Bewegungsdynamik, gehen zugleich in der frei den Raum flutenden Menschenmenge auf. Attraktiv ist die Bewegungsmöglichkeit beim Hören – kann man doch hier seine eigene Klang-Abmischung ständig verändern. „Invisible Threads“ hat all diese Parameter miteinkalkuliert, um auf diesem nie-statischen Nährboden einen Kosmos aus lyrischen, meditativen zugleich abstrakten, nicht selten ergreifenden Wirkungen auszubreiten, was allein für die Ausführenden eine extreme Konzentrations- und vor allem Synchronisationsleistung bedeutete.
Ein Garant für verspielte Leichtigkeit
Ein anderer Wittener Protagonist, ohne den das Festival nicht seinen speziellen Charakter hätte, ist der Performance-Künstler Manos Tsangaris. Es erfreut allein, welche verspielte Leichtigkeit Tsangaris in seinen Arbeiten immer wieder nach Witten bringt – durch liebevoll durchdachte interdisziplinären Projekte, Installationen und Experimente. Diesmal widmete sich ein szenisches Hörspiel an verschiedenen Spielorten auf dem Festivalgelände dem Thema Radio, vor allem in dessen historisch-kulturprägender Konnotation. Öffentlich-rechtliches Radio hat seit dem zweiten Weltkrieg die kulturelle Avantgarde publik gemacht – und war für viele Menschen überhaupt erst eine Sozialisationsinstanz – wohl für alles, was über den Viervierteltakt hinausging.
Verglichen mit den sensationellen Momenten beim Klangforum Wien und den Kammerensembles am Samstagnachmittag, wirkte das Abschlusskonzert mit dem WDR-Sinfonieorchestern etwas schwächer, bot aber dennoch immer noch viel solide zeitgenössische Musizierkultur.
Die Isländerin Bárá Gísladóttir, welche sich am Abend als Hörende mit extremer Begeisterung in die Sinneswelt des Wandelkozertes hatte fallen lassen, präsentierte beim Finalkonzert ihr eigenes Stück mit dem Titel „Cor“- eine stationäre Klangstudie aus dem Jahr 2021, in dem sich alle Instrumente zu einem subtilen Geflecht aus Obertönen vereinen. Klaus Ospalds Komposition Escribí bot einen soliden Dialog zwischen einem solo-Kontrabass und dem reduzierten Orchesterapparat. Das Finale gehörte noch einmal der Residenz-Komponisten Carola Bauckholt, der es – im Gefolge von Mauricio Kagel – der Umgang mit Geräuschen angetan hat. Ihr neues Werk „Aus dem Geröll“ schöpfte aus einem perkussiven Rohmaterial, wo vor allem Schlagwerke allerhand schräge und auch lustige Klanginterventionen erzeugten.
Echo Chamber for Collective Sound Memory: The Witten Days for New Chamber Music 2023
The Wittener Tage für neue Kammermusik (Witten Days for New Chamber Music), one of the most traditional festivals for contemporary music, remains an important space for the free spirit to develop under its new director Patrick Hahn. The current edition of the festival united a wide range of contemporary art music under the loose motto „Schnitt.Punkte, Flucht.Punkte, Kipp.Punkte“. Ensembles such as Klangforum Wien or the improvisation trio of Christopher Dell, Christian Lillinger and Jonas Westergaard provided exciting compositional substance. The museum invited visitors to interactive spatial sound concerts, which offered a welcome change from the concerts.
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