Von Stefan Pieper.
In einem ehemaligen Luftschutzbunker unterhalb der verkehrsreichen Bielefelder Stadtmitte bildet eine kleine Bühne das Zentrum, flankiert von jeweils zwei Zuschauerräumen. Raffinierte Perspektiven eröffnen im Soziokulturzentrum „Bunker Ulmenwall“ zudem mehrere, über dem Viereck aufgehängte Spiegel. Vis a vis zu spielen ist hier für jede Band die logische Konsequenz – und das sorgte auch bei „Hilde“, einem experimentierfreudigen, ausschließlich weiblich besetzten Quartett aus NRW für maximale Vertiefung.
Julia Brüssel, Violine, Maria Trautmann, Posaune, Marie Daniels, Stimme und Emily Wittbrodt, Cello, haben sich im Ruhrgebiets-Kollektiv „The Dorf“ kennengelernt, welches im November im Dortmunder domicil sein 15jähriges Bestehen feierte. Der dort gelebte, freie künstlerische Ansatz strahlt in die eigenen künstlerischen Projekte vieler Protagonisten hinein, wirkte also auch für die Band Hilde wie eine Keimzelle für die eigene Kreativität.
Der Horizont ist weit und die Fantasie reich. Ebenso die Bereitschaft, sich ganz auf den Moment einzulassen. Beim Konzertbeginn in der Bielefelder „Unterwelt“ dominiert eine Art Ur-Chaos aus Klängen, Frequenzverläufen und Geräusch-Gesten. Nichts ist hier geradlinig getaktet oder architektonisch geordnet. Alles wuchert frei, entwickelt sich organisch und dies in unmittelbarer Konfrontation. So verschlungen die Strukturen, so dominiert dabei ein direktes „Instant Composing“ . Dabei geht es aus einer frei wuchernden Individualität direkt in eine gemeinsame Mitte hinein. Frequenzverläufe bekommen Struktur, stationäre Bordun-Töne geben den feinsinnigen Gebilden viel Erdung.
Eine verschlungene, dichte Musique Concrète
Beide Sets, welche „Hilde“ im Bunker Ulmenwall spielt, durchlaufen wechselnde Stadien. Zuweilen ist es eine verschlungene, dichte „Musique Concrète“, in der vor allem Marie Daniels ihre Stimme in allerhand lautpoetischen Nuancen einsetzt. Maria Trautmanns Posaune bringt kraftvoll artikulierende Rhetorik in die Sache, die auch rhythmisch strukturierte Gestalten hervorbringt. Derweil der ganze schillernde Klangreichtum gestrichener und gezupfter Saiten aus Emily Wittbrodts Cello und Julia Brüssels Violine Assoziationen an einschlägige Streicher-Komposition des 20. oder auch 21. Jahrhunderts weckt, ebenso blitzen fantasievolle Anspielungen an Renaissance oder frühe Barockmusik auf. Aber mit solch reichen Ressourcen um sich selbst zu kreisen, ist nicht Sache der Band „Hilde“: Mehr und mehr schälen sich Songstrukturen aus diesen Klangszenarien heraus. Aus dem Abstrakten sich ins Lyrische hervorwagen, darum geht es – umso mehr wie schließlich die Marie Daniels Gesangslinien emotional wirkungsstarke Songstrukturen formen.
Haben diese musikalischen Abenteurerinnen diesmal völlig anderes gespielt als beim letzten Konzert oder auf ihrer bemerkenswerten CD? Oder hat man einfach wieder mal andere, völlig neue Aspekte in diesem befreiten Ideenfluss entdeckt? Ein Gespräch mit den Musikerinnen nach dem Konzert stellte klar, dass beides der Fall ist.
Die Band „Hilde“ wird, wie etliche andere Jazzformationen in NRW, durch die Richard Dörken Stiftung gefördert. Mit einer solchen Wahl beweist die renommierte Stiftung, die sich seit 1987 um den Musikernachwuchs NRW beliebt macht, eine weitblickende Offenheit für aktuelle künstlerische Gegenwart.
Ein Gespräch mit den Programm-Machern im Bunker-Ulmenwall
Ein ausführliches Gespräch über die Situation bei der Programmplanung in Ostwestfalens Jazzspielstätte Nr. 1 ergab sich mit Frank Ay (künstlerische Leitung im Bunker Ulmenwall) und Frieda Wieczorek (Geschäfts- und pädagogische Leitung). Es fühlte sich wie ein besonderes Geschenk an, dass der Auftritt von „Hilde“ kurz vorm Jahresabschluss noch zustande gekommen war. Viele Konzerte wurden abgesagt. Bei den wenigen noch stattfindenden Veranstaltungen ist der Zulauf eher spärlich. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Ungewissheit schauen Frank Ay und Frieda Wieczorek in die nächsten Monate. Können weiterhin Konzerte wie geplant stattfinden? Wie viele Menschen werden kommen? Das Geld ist nach wie vor knapp. Die Einnahmen aus den Spielstättenprogrammpreisen sichern gerade so das „Überleben“ bei der Programmplanung. Trotzdem ist das Glas mindestens (!) halbvoll, wenn es um öffentliche Wertschätzung geht: Bielefelds östlicher Außenposten der Jazzszene in NRW hat sich auch im Sommer viel Gehör verschafft – und damit zur „corona-bedingten“ Renaissance der Open-Air-Kultur gewichtig beigetragen. Das Sommerfestival „Bunker unter Ulmen“ hatte für Superstimmung, viel Publikumszulauf und positive, auch überregional wahrgenommene Ausstrahlung gesorgt.
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