Eine Rezension von Carsten Schmidt.
Franziska Hauser hat sich als Buch-Autorin sowie Fotografin und Redakteurin für das „Magazin“ und andere Medien bereits einen Namen gemacht. Im Herbst 2017 gründete sie in Berlin die Lesebühne DEO mit Kirsten Fuchs und Susanne Schirdewahn. Sechs Jahre arbeitete Franziska Hauser an der Vollendung vom gewichtigen Werk „Gewitterschwimmerin“, in welchem sie nichts Geringeres versucht, als eine Familiengeschichte von vier, eigentlich sogar fünf Generationen auszubreiten.
Mitten hineingeworfen in die episodenhaft geschneiderten, nur bedingt chronologisch gestellten Szenen von über 120 Jahren, von 1889 bis 2017, müssen die Leser augenblicklich wachsam sein und mitdenken. Über die Grenzen von Religion, Milieu, Dialekt und Bildung hinweg entfaltet sich das Geflecht einer Verwandtschaft, in dessen erzählerischem Mittelpunkt Tamara steht. Tamaras Perspektive eröffnet und schließt die Geschichte einer Frau, die ihre Kindheit in der jungen DDR erlebt und in den 50ern in und um Berlin sowie in Dresden aufwächst, als Kind von einem Kader-Elternpaar, Alfred und Adele Hirsch, das für den Kulturbund und andere Staatsorgane in alle Herren Länder fährt, um Lesungen, Vorträge und Konferenzen zu besuchen. Ihre Kinder, die Töchter Tamara und Dascha – politisch angemessen mit russischen Vornamen versehen – verbringen die meiste Zeit im Privilegierten-Haushalt mit der bäuerlich geprägten Haushälterin Irmgard, die aus Ostpreußen stammt.
In den Zeitebenen, die den jüdischen Großvater Friedrich Hirsch und seine Schwierigkeiten mit der deutschen Gesellschaft zeigen, erfahren wir, wie pflichtbewusst und verlässlich Friedrich unterrichten will, bis er Deutschland verlassen muss und in England Exil findet. Sein Sohn Alfred stellt für sich jedoch das ideologische über das jüdische Element und wird einer der geistigen Aufbau-Pioniere der jungen DDR. Doch weder Alfreds politisch tief gefärbte Bücher noch seine ideologisch-theoretischen Reden können die Töchter erreichen. Was Dascha und Tamara über Jahre bräuchten, aber nicht bekommen, ist Herzlichkeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern. Nur sporadisch spielt der Vater mit ihnen, dann aber mit solcher Distanz-Problematik, dass es immer wieder zu Missbrauch kommt, was die gefühlskalte und depressive Mutter und Ehefrau Adele zwar weiß, aber nicht stoppt. Sie vermag den Töchtern außer Kontrolle und Kritik gar keine Zuwendung zu geben.
Sexuelle Gewalt in der Kindheit und späteres promiskuitives Verhalten vor allem bei Tamara, die in der DDR staatlich anerkannte Puppenspielerin wird, ist ein derart zentrales Thema in dem Buch, dass es phasenweise auf jeder zweiten Seite vorkommt. Die emotionale Instabilität, die Sprunghaftigkeit und im Grunde Borderline-Persönlichkeit der Hauptfigur Tamara, die privat gern nackt herumläuft und auch bei Gewitter schwimmen geht, explizit in einer gewissen suizidalen Erwartung, lässt die Leser mehr als einmal schwer durchatmen. Ja – es sind sehr harte Themen und äußerst dunkle Wolken, die traumhaft und in Erinnerungsfetzen vorbeiziehen.
Das Attraktive am Buch von Franziska Hauser ist, dass sie es sprachlich schafft, in realistischer, nachvollziehbarer und phantasievoller Art die Figuren zum Leben zu erwecken. Die Sprache ist psychologisch ganz nah am Geschehen und wenn es sein muss, auch rotzig verkürzt dargestellt, so dass eine der Töchter eben nur launisch meckert „Doch egal!“ Es ist diese nahe, unprätentiöse Sprache und der greifbare Stil, der das Buch außergewöhnlich macht. Der thematische, historisch gewählte Rahmen gibt ihm zudem eine gesellschaftliche Relevanz, die sich nicht theoretisch, sondern praktisch mit Themen wie Epigenetik und transgenerationaler Trauma-Weitergabe beschäftigt.
Was handwerklich schwierig scheint ist der Umstand, dass Franziska Hauser sich mit den vier Generationen, den 120 Jahren und der nicht chronologisch gestellten Episoden-Erzählweise vielleicht etwas übernommen hat. Auch trotz Familienstammbaum am Ende gehen einem zeitweise die Bezüge verloren und man ist über Seiten verloren. Psychologisch wirkt einiges zu über-erklärt und historisch ist es an einigen wenigen Stellen wacklig.
Dass diese kleineren Dinge durchaus in einer folgenden Auflage angepasst werden könnten, ist jedoch nicht das Wichtige an dem Buch. Das Wichtige ist, dass ihm weitere Auflagen und viele tausend Leser zu wünschen sind, denn das hätte das Buch und die hochtalentierte Autorin verdient.
Franziska Hauser
Gewitterschwimmerin
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2018
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