Rezension von Ingobert Waltenberger.
In der Flut der Bach-Aufnahmen ist es gar nicht so leicht, Pianisten mit Wiedererkennungswert zu finden. Denen nicht die akademische Frage nach einem möglichst „ursprünglichen“ Klang (Cembalo, Orgel, Hammerklavier) alle Aufmerksamkeit gilt, sondern die das Bach‘sche Universum wie einen Regenbogen an Stilen und Phrasierungsvarianten u.a. mit tänzerischem Schwung, virtuos knallhartem Kontrapunkt, duftig geheimnisvollen Melodien wie aus anderen Galaxien oder perlenden Tongirlanden aufblühen lassen. Der aus Odessa stammende Boris Bloch ist so ein Künstler. Der besonders für seine Liszt-Opernparaphrasen und Mussorgsky-Aufnahmen gerühmte Pianist folgt bei seinem aktuellen Album dem Diktum der Bach-Legende Rosalyn Tureck, wonach „Bachs Musik im Wesentlichen ein Abstraktum, ein Ideenkunstwerk sei, das nicht von einem spezifischen instrumentellen Klang abhängig sei.“
Folgerichtig spielt Boris Bloch auf modernen Flügeln. Und wie er das tut: Die stupende Technik wird stets in den Dienst des musikalischen Ausdrucks gestellt. Erkennt jeder geschulte Bach-Hörer Glenn Gould sofort an den fein abgezirkelten Tönen, so lässt auch Boris Bloch in seinem Bachspiel durchaus seine Persönlichkeit aufblitzen. Wie S. Richter kann Bloch wie aus Granit gemeißelte Fugen und über dem Erdboden gazellenhaft schwebende Präludien gleichermaßen mit Sinn erfüllen. Sein enorm weit gestreutes und dennoch ganz individuell markantes Anschlagspektrum sowie seine musikalische Sensibilität sind es auch, die ihm diese starke Eigenmarke verleihen. Wer traut sich in unserer oft auch musikalisch allzu sterilen Zeit etwa das „Larghetto“ aus dem Concerto D-Dur BWV 972 so gefühlvoll in bloßen Pianoabschattierungen spielen, um im folgenden Allegro mit ungeheurer Leichtigkeit, Rasanz und verspielter Attitüde eine vollkommene Gegenwelt zu schaffen?
Die Bach-Sammlung auf zwei CDs enthält die ersten beiden Partiten, acht Präludien und Fugen überwiegend aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers, die Toccata D-Dur, die Französische Suite Es-Dur, die Fantasie c-Moll, das italienische Konzert und zwei Konzerte nach Vivaldi und Marcello. Die Aufnahmen erstrecken sich über einen Zeitraum von 15 Jahren: Die beiden Partiten, die vier Präludien und Fugen in C-Dur, E-Dur, e-Moll und das Präludium in c-Moll wurden 2004 im Studio aufgenommen. Die c-Moll Fuge ist ein Live-Mitschnitt aus dem Salzburger Mozarteum. Die Toccata in D-Dur, die Präludien und Fugen in D-Dur, d-Moll, G-Dur (aus dem 2. Teil), in fis -Moll und die französische Suite – auf einem Bayreuther Steingraeber Flügel D-232 – wurden 2018 ebenfalls im Studio auf einem Steinway D eingespielt. Die c-Moll Fantasie, die Präludien und Fugen in C-Dur, c-Moll, E-Dur, e-Moll und die drei Konzerte (das „Italienische“ und die beiden nicht minder „italienischen“ Konzerte nach Vivaldi und Marcello) bildeten den Hauptteil eines Klavierabends im Jahr 2008 in der Christian-Schoke-Klaviergalerie Köln. Sie wurden dort mit Ausnahme der vier Präludien und Fugen auf einem Steingraeber-Flügel E-272 live aufgenommen.
Fazit: Ein gewichtiges und solitäres Album, das sich in seiner schillernden Qualität jeder Kategorisierung entzieht. Scheinbar Altbekanntes von Bach ist neu zu hören und kann vielleicht tiefer empfunden werden als je zuvor. Eine Offenbarung!
Bach: Toccata BWV 912 / Präludien und Fugen BWV 846-847-854-855
Piano Works Vol. 8 (2 CDs)
Boris Bloch, Piano
ARS Produktion, 2019
CD kaufen oder nur hineinhören
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.