„Die Vier Jahreszeiten von Astor Piazzolla“ heißt das aktuelle Album des „Ensemble Contrebajando“, das durch seine Reife und Klarheit und eine hervorragende aufnahmetechnische Realisierung besticht. Von Stefan Pieper.
Die Erfolgsgeschichte von Astor Piazzolla gründet vor allem darin, dass sich dieser Komponist nicht mehr länger irgendwelchen etablierten „Vorbildern“ unterordnete, sondern sich endlich traute, mit dem Tango, der bis dahin als „Bordellmusik“ galt, zum eigenen musikalischen Wesenskern zu bekennen. Die französische Professorin Nadia Boulanger hatte ihm die Augen dafür geöffnet – was einer musikpädagogischen Jahrhundert-Tat gleichkommt. Der Rest ist Geschichte. Piazzollas „Tango Nuevo“ genießt seitdem eine ewige Präsenz. Eine neue Einspielung mit ausgesuchten Highlights aus diesem Repertoire stellt gerade deshalb eine Herausforderung dar: Geht es doch darum, allzu vertraute Oberflächen zu durchstoßen, um dann umso mehr den Tiefenschichten der Musik auf die Spur zu kommen.
Das Ensemble Contrabajando zeigt sich auf der neuen CD „Die Vier Jahreszeiten von Astor Piazzolla“ mit solchen Eigenschaften reich gesegnet. Ob es daran liegt, dass die Besetzung eben nicht nur aus reinen „Klassik-Musikern“ besteht? Angeführt wird das Ensemble von der renommierten Cellistin Felicitas Stephan. Am tiefen Kontrabass waltet ihr Lebenspartner Uli Bär, ein Jazzmusiker mit Leib und Seele. Auch der Gitarrist Andreas Heuser ist multikulturell unterwegs, wenn er das in Dortmund beheimatete „Transorient Orchestra“ leitet und im Jahr 2017 WDR Jazzpreisträger wurde. Hinzu kommt noch die russische Klassik- und Jazzpianistin Anna Polomoshnykh und – als wichtigste Stimme! – die finnische Akkordeonvirtuosin Heidi Luosujärvi.
Farbenprächtige Instrumentierungen
Wehmütig, aber mit zuversichtlicher Wärme umgarnt Astor Piazzollas „Milonga del Angel“ die Hörenden. Diese Stücke gehören noch zur frühen Tangophase von Piazzolla, als sich dieser intensiv mit Engeln und Dämonen auseinandersetzte. Das Ensemble Contrabajando schöpft aus der Schlichtheit der Melodie viel emotionale Reichhaltigkeit in treffsicherer Instrumentierung. Jede instrumentale Farbe darf hier atmen – und gerade Cello und Akkordeon überbieten sich in Sachen Ausstrahlung. Bei alldem vereint das Quintettformat des Ensemble Contrabajando alle Vorzüge sämtlicher Besetzungs-Alternativen, vor allem orchestrale Vielfalt mit analytischer Transparenz.
Im Zentrum der Aufnahme steht Piazzollas Zyklus über die „Vier Jahreszeiten“. Sie stehen übrigens nicht in der sonst üblichen Reihenfolge und sind auch zeitlich versetzt unabhängig voneinander entstanden. Piazzollas Anliegen ist bekannt: Die Stimmungswechsel der Jahreszeiten auf der Südhalbkugel brauchen ein musikalisches Pendant zu Vivaldis „Standardwerk“ aus dem italienischen Barock. Erregung durch aufgeheizte Natur, tiefe innere Ruhe, wenn sich der Tag neigt. Der Herbst, der immer etwas mit Abschied und Vergänglichkeit zu tun hat. Der Winter, dessen melancholische Stimmung auch wieder mit heißen Rhythmen begegnet wird. Wenn es dann wieder Frühling wird, erwachen neue, tanzende Lebensgeister.
Schwere und Leichtigkeit
Die Band – so können wir es ruhig hier nennen – lässt diese elementaren Zustände in Piazzollas Tango-Diktion unmittelbar aufleben, dosiert beherzt den Wechsel aus Schwere und Leichtigkeit, lässt die Agogik, die sich über jedes feste Metrum überlegen fühlt, atmen. Das wirkt elegant und leichtfüßig. Dabei kontrolliert das Ensemble Contrabajando Dynamik und Balance mit so viel Disziplin, dass sich die ganze Architektur von Piazzollas polyphoner Kompositionsweise gut erschließt.
José Bragato war ein etwas jüngerer Zeitgenosse von Piazzolla. Aus seiner Feder kommt ein Bravourstück, in dem die Cellistin Felicitas Stephan diesem berühmtesten Cellisten der Tango-Geschichte mit allem Herzblut Ehre erweist. Das Stück ist in dieser Besetzung übrigens eine Erstaufnahme.
In einer wirkungsstarken Triologie verschaffen sich schließlich drei der berühmtesten Stücke aus dem Spätwerk Gehör. Eine imponierende Ausdrucksbandbreite bauen Cellistin Felicitas Stephan und Pianistin Anna Polomoshnykh im Grande Tango, zugleich dem längsten Stück dieser Aufnahme im Duo auf. Das süßlich balladeske Stück „Tanti Anni Prima“ schlägt eine Brücke zu einer der berühmtesten Melodien der Musikwelt, dem Stück „Oblivion“, welches Piazzolla ursprünglich dem italienischen Filmregisseur Marco Belloccio auf den Leib geschrieben hat. Damit führt das Ensemble Contrabajando diese wirkungsstarke, imaginäre Reise würdig und mit gleichbleibend innigem musikalischen Atem in die Zielgerade.
Das Releasekonzert des neuen Albums findet am 10. September im Kunstmuseum Bochum im Rahmen des Celloherbst am Hellweg statt.
Weitere Termine
Sonntag, 11. September, Unna, Synagoge
Sonntag, 30. Oktober, Meschede, Alte Synagoge
Ensemble Contrabajando
Die Vier Jahrezeiten von Astor Piazolla
Felizitas Stephan | Cello
Heidi Luosujärvi |Akkordeon
Andreas Heuser | Gitarre
Uli Bär | Kontrabass
Anna Polomoshnykh | Klavier
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