Die unglaublichen Zarinnen des Burlesque – Sheila Wolf und Reuben Kay gegen sich die Ehre. von Ingobert Waltenberger.
Nach Wien gibt es jetzt auch in Berlin diese ganz besondere Nachtfauna zu bestaunen. Jenseits aller Klischees und voller Überraschungen, unanständiger Witze und glorioser Erotik, mit einem Wort Plaisir für das Auge und Ohr, wie es sich halt für Berlin so gehört. Das zündet und funkelt, juckt in den Beinen und rot geklatschten Händen.
Im TIPI am Bundeskanzleramt fand am Sonntag der zweite Abend des ersten Boylesque Festivals Berlin stattfindet. Aufgewärmt und eingesungen, die Körper und Kostüme in Form gebracht wurde schon am Abend vorher, in der Bar jeder Vernunft, in einer Late Night Extravaganza Show (Beginn 23h30). Da glitzert und fummelt es, singt und fetischisiert, lässt Hüllen und Scham fallen. „Boylesque, das liebevoll auch mal als männlicher (Strip-)Tease mit Storyline betitelt wird, begeisterte schon im späten 18. Jh. die Damen- aber auch die Herrenwelt. In den frühen 1920er Jahren eroberte diese Kunstform dann die Berliner Hochkultur, um kurz darauf im Underground weiter zu blühen.“
An diesem so spannenden europäischen Wahlabend nahe dem Bundeskanzleramt erfreute sich eine gut gelaunte, bunt gemischte Schar im Publikum an 15 Künstler(gruppen), die mit voller Stimme, geschwungenen Hüften, atemberaubender Akrobatik und allerfrechster Ansage für drei Stunden die ewigen Aufs und Abs der politischen Welt vergessen machte. Frei nach dem Motto, wie mein Bettnachbar beim Bundesheer stets vor dem Schlafengehen sagte: „Gute Nacht Ihr Sorgen, leckt mich am Arsch bis Morgen.“
Endlich auch einmal ein Abend, an dem alle Genderschranken über den Haufen geworfen wurden und Menschen jeden Geschlechts das Leben in seinen schönsten Blüten zelebrierten. Organisiert wurde der Abend wie das gesamte Festival von Sheila Wolf, die post-gender Überfrau von Berlin Cabaret, queere Ikone im hautengen Glitterstretch. Etwas irgendwie zusammengewürfelt waren die Acts und Performer schon. Dem Applaus nach zu schließen hat das aber niemanden gestört.
Kein Wunder, standen doch neben tapferen Berliner Größen wie Gloria Viagra (she is great), das „Empire State Building“ of Drag Mama Moustache – the face of Berlin Nightlife auch internationale Superstars wie die in jeder Hinsicht umwerfende Sherry Vine auf der Bühne. Nicht ganz political correct, was die blonde schöne Diva da so sang. „How I blew ya“ als irrlichternde Parodie auf „Halleluja“ schoss da wohl den Vogel des Abends ab. Ich habe Sherry Vine 2009 das erste Mal auf einer Atlantis Cruise gehört, schon damals war sie der dunkel glitzernde Diamant der nächtlichen Shows.
Das Programm wurde großteils von Reuben Kaye moderiert. Die australische Wort- und Schundschleuder boostet so viel Energie auf die Bühne, dass man wahrscheinlich halb Berlin damit beleuchten könnte. A real „explosion, high camp, big notes and filthy humour.“ Sein nie versiegendes Reservoir an aberbissigem Witz, wildester Sprachakrobatik ohne Netz und wechselnden Oberteilen reicht für Hundertschaften an Travestieabenden. Ein schöner brillanter Mensch mit einem Mundwerk wie eine Wiener Naschmarkttandlerin.
Und wen er da alles ankündigen und vorstellen durfte, die heißesten Gewächse im Dschungel des Tiergartens. Seien es Kitten N’ Lou, the World’s Show-Busiest Couple oder Marnie Scarlet, the Queen of Fetish cabaret, Performancekünstler mit schwarz-goldenem Humor, bizzarer Kluft und geschmeidigen Körpern. Theodora Rex aus Helsinki, die männlichen Strip Acts voller Eleganz oder verschwitztem Leder von Tristan Ginger bzw. dem Londoner Dave the Bear, die Fetischlady Chlorophyll von Needle versetzten das Publikum in glückvollste Life-Ball Atmosphäre. Als echte Akrobaten verwandelte das knackige Husband Duo Little Finch mit ihren kühnen Luftnummern das TIPI wieder in ein Zirkuszelt. Optisch boten die beiden eine perfekte Hommage an die berühmten Matrosen Jean-Paul Gautiers.
Weitere Höhepunkte lieferten Admira Thunderpussy & Madame Heinz mit dem berühmten Backstreet Boys Song „Everybody“. Bodenständiger Berlinerisch ging es mit den Altar Boyz weiter. Die fünf sexy Jungs sind mit ihren christlichen Songs noch am 7. bis 9. Juni in der Musical Comedy „Am achten Tag schuf Gott die Boygroup“ im TIPI zu sehen. Der Abend schloss durchaus sentimental mit Berliner Lokalkolorit. Special Guest Peter Frost sang in Begleitung von Gary Schmalzl „In Berlin gibt es ein Meer“ (aus dem Album „Zeit ist ein Arschloch“) mit Gurgelchor. Am Ende Jubel und Dank für einen Abend mit Chilli und Rharbarberschorle, Wiener Schnitzel und Bier, Sekt und Oliven. Prost alle miteinander. Auf dass dieses Festival 2020 in die zweite Runde gehen möge.
Altar Boyz im TIPI am Kanzleramt, Berlin.
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