Rezension von Martin Schmidt.
Mit einer biographischen Würdigung Hokusais nehmen sich der Autor Francesco Matteuzzi und der Zeichner Giuseppe Latanza einen Künstler vor, dessen Leben und Wirken legendenumwoben sind. Der Farbholzschnitt der Großen Welle von Kanagawa, mit dem er seine Folge der 36 Ansichten des Berges Fuji beginnen lässt, ist eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt und hat im Lauf der Zeiten eine beispiellose Karriere als Merchandising-Motiv durchlaufen, auf Postern, Porzellan, Grußkarten, Taschen und ikonischer Eyecatcher für nahezu alles, was sich bewerben lässt. Die Kennerin ostasiatischer Kunstgeschichte Antje Papist-Matsuo nennt die Große Welle das erste wirklich globale Kunstwerk. Der Zugang zu dessen Urheber ist so gewissermaßen verstellt durch übergroße Sichtbarkeit.
Wer sich dem Menschen und Künstler Hokusai nähert, muss versuchen, aus unzähligen Anekdoten und biographischen Schnipseln, die teilweise im Bereich des Unwahrscheinlichen angesiedelt sind, sich der Realität in Form eines Destillats anzunähern. Francesco Matteuzzi gibt auch unumwunden zu, sich auf diese Weise seinen Hokusai ersonnen zu haben und schiebt die rhetorische Begründung gleich nach, wonach nicht der Wahrheitsgehalt einer Geschichte das Entscheidende sei, sondern ihr Vermögen, einer großen Lebenserzählung zu Unsterblichkeit und damit einer Art höheren Wahrheit zu verhelfen.
Der Künstler Hokusai (1760-1849) selbst liefert für diese Herangehensweise die Blaupause. Wie viele der Künstler im damaligen Japan wechselte er oft seinen Namen, Hokusai ist nur einer davon, aber eben der, mit dem sein Weltruhm verknüpft wird. Die Namen beruhten zum einen auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Malschule, zum anderen auch auf persönlichen Stilwechseln oder sie waren mit bestimmten Genres verknüpft, in denen Hokusai arbeitete. In der Edo-Zeit (1603-1868) existierten viele verschiedene Malschulen, deren Namen sich aus denen ihrer Gründer herleiteten. Es ist nicht auszuschließen, dass Hokusai mit wachsender Bekanntheit auch Geschmack an der eigenen Legendenbildung fand und ihr durch das Geheimnisvolle der Namenswechsel ein wenig Vorschub leistete.
Unbestritten ist, dass sein Ruhm eine im doppelten Wortsinn handfeste Basis aufweist, nämlich sein überragendes künstlerisches Gestaltungsvermögen. Er war es, der mit seinen Mangas eigenständige Bild-Erzählungen schuf, die ohne literarische Vorlagen auskamen und damit dem Genre des Ukiyo-E, den „Bildern der fließenden Welt“, zu einer weiteren Blüte verhalfen. Er hat von der Beliebtheit dieses Genres ebenso profitiert wie er sie durch das eigene Werk noch gesteigert hat. Seine Modernität ist nicht nur eine, die wir von heute aus auf ihn projizieren, sondern sie gründet auch auf seinem umfassenden Blick, mit dem er auch Errungenschaften und Merkmale europäischer Malerei rezipierte und daraus Anregungen bezog. Zu vielen Genres und Publikationsformen hat Hokusai entscheidende Beiträge geleistet und schon der immense Umfang seines Schaffens, das an die 30.000 Werke zählt, legt davon Zeugnis ab.
Der Autor Francesco Matteuzzi kann also aus dem Vollen schöpfen, ohne sich sklavisch an die nicht immer eindeutige biographische Faktenlage zu binden. So nähert er sich dem Phänomen Hokusai nicht in einer kontinuierlichen Erzählung, sondern in einzelnen Episoden, die etwa den Eintritt des Künstlers in die Schule des Malers Shunsho behandeln sowie seinen Weggang und Entschluss, fortan frei und ungebunden zu arbeiten oder auch die Auseinandersetzung mit Autoren, deren Werke er illustrieren sollte. Auch die Extreme von Gigantomanie und Winzigkeit, die zur Legendenbildung gehören, kommen zu ihrem Recht, so Hokusais 200 qm großes Buddha-Porträt und die Vögel, die er auf ein kleines Reiskorn gemalt haben soll. Zwischen diese Episoden flicht Matteuzi allgemeine Informationen zur Kultur und Geschichte Japans ein, die Schlaglichter auf Religion, die verschiedenen Gesellschaftsstände und Ausdrucksformen der Kunst werfen. So verständlich diese Hilfestellungen auch sein mögen angesichts einer Kultur, die den meisten von uns sehr unbekannt und rätselhaft ist – sie bringen einen auch ins Stocken und behindern so trotz ihres Informationsgehalts das Eintauchen in diese fremde Welt. Auch wirken sie manchmal etwas beliebig. Manche dieser Einlassungen stimmen nicht oder sind ungenau, und hier hätte ein Lektorat wohl schon im Original korrigierend eingreifen müssen. So folgt auf S. 66 der technischen Kurzbeschreibung des Holzschnitts ein Verweis auf den Siebdruck als völlig andersgearteter Technik, der hier überhaupt nichts verloren hat. Die Technik des Holzschnitts kann hier für sich allein stehen und bedarf keiner Abgrenzung. Und auch ohne diese Gegenüberstellung ist die Erklärung etwa zur immensen Auflagenhöhe der Holzschnitte irreführend. Dann müsste man erwähnen, dass die Tatsache der von Hand abgeriebenen Abzüge hohe Auflagen ermöglichte, während Drucke in der Presse solch enorme Mengen an Abzügen im Holz gar nicht zugelassen hätten. Nicht das Schnittverfahren ist also das Entscheidende, sondern die Art des Reproduktionsprozesses und auch die manuelle Duplizierung von Druckstöcken. Zudem ist der Holzschnitt das Hochdruckverfahren schlechthin, das bereits Jahrtausende vor dem Buchdruck existierte. Das ist zwar zugegebenermaßen Spezialwissen, gehört aber in diesem Fall zum Gesamtbild. Diese Erläuterungen stimmen einfach nicht. Anders gelagert ist die Sequenz, die Hokusais Spannungen mit dem Schriftsteller Bakin betrifft (S. 68). Die Szene mag so oder ähnlich stattgefunden haben. Zwei Seiten später irritiert die vermeintliche Fortsetzung dieses Streits, denn die Person, mit der Hokusai spricht, ist der Verleger und nicht der Autor (S. 70). Solche sicher nicht beabsichtigten Irreführungen sind ärgerlich und trüben bisweilen den Lesegenuss, den das Werk insgesamt bietet.
Der Zeichner Giuseppe Latanza hat sich entschieden, klare Linie zu zeigen und passt damit seinen Stil adäquat an das Erscheinungsbild japanischer Farbholzschnitte an. Gut gebildete Formen ohne allzu detaillierte Binnenstrukturen und die Farbadditionen der umgrenzten Flächen schaffen einen ruhigen Rhythmus, der insgesamt stimmige Bilder erzeugt, ohne durch ausgestellte Kunstfertigkeit vom Inhaltlichen abzulenken. Ein kleiner Kritikpunkt meinerseits sind die immer wieder gezeichneten Schweißtropfen in den Gesichtern, die von Anstrengung und ernsthaftem Arbeiten künden. Das ist mir hier zu klassisch comichaft gegeben, illustriert dabei aber wohl unabsichtlich die kulturell unterschiedlichen Auffassungen von Konzentration, die bei uns mit übermäßiger Anstrengung und einem Hauch Qual verknüpft sind, während sie in der asiatischen Tradition mit Kontemplation verbunden bleibt und einer Fokussierung, die geradezu als Voraussetzung für große Taten gelten kann.
Insgesamt liefern Matteuzzi und Latanza einen guten Einstieg in die Besonderheiten und manche Charakteristika japanischer Kunst und Kultur. Der Ausblick in die Rezeption Hokusais und seiner Zeitgenossen kann ein guter Anstoß sein für alle, die sich dem Phänomen des Japonismus näher widmen möchten und damit der Überführung dieser Bildwelt in den abendländischen Kulturkreis. Es war nicht von ungefähr ein französischer Zeichner und Radierer, Felix Braquemond, der sich um 1860 von der Schönheit der japanischen Linienführung hinreißen ließ und seine Künstlerfreunde damit bekanntmachte. Impressionismus und Jugendstil verdanken Hokusai im Speziellen und dem japanischen Farbholzschnitt im Allgemeinen grundlegende Anregungen, die sichtbare Welt und ihre Bewohner jenseits akademisch-historistischer Wiedergabe in faszinierende Bilder umzusetzen.
Und nur am Rande, aber als schöner Schlusspunkt sei hier vermerkt, dass der deutschböhmische Künstler Emil Orlik sich während seiner Japanaufenthalte den Geist der fernöstlichen Kunstübung so anverwandelte, dass er ihn nach 1900 erfolgreich ins preußische Berlin importieren konnte – das ist eine Geschichte, die wohl auch dem Meister Hokusai gefallen hätte.
Matteuzzi / Latanza
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