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Il Tamerlano oder Bajazet? Zwei Namen, eine Oper!

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikRezension von Ingobert Waltenberger.

Das französische Independent Label Naïve Records legt mit „Il Tamerlano“ eine weitere Gesamteinspielung aus dem gigantischen Schallplattenprojekt betreffend das Schaffen des venezianischen Barockkomponisten Antonio Vivaldi vor. 50 Opern hat er geschrieben. 21 sind in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckt worden, die meisten davon liegen schon als Studioproduktionen vor. Dieser Tamerlano ist jedoch keine Weltersteinspielung. Da war EMI Records/Virgin Classics rascher. Unter dem Titel „Bajazet“ wurde die dreiaktige tragedia per musica nach einem Libretto von Agostino Piovene schon 2005 von Fabio Biondi mit Vivica Genaux, David Daniels, Patrizia Ciofi und Elina Garanca sowie dem Ensemble Europa Galante aus der Taufe gehoben. Dafür ist die neue Aufnahme, auf der kritischen Edition von Bernardo Ticci aus 2019 beruhend, vollständiger und bietet so mehr Musik. Mir persönlich gefällt die quirlig akzentuierte musikalische Leitung durch Ottavio Dantone wesentlich besser als die sicher ebenso gediegene, aber dynamisch und rhythmisch doch einförmigere Interpretation von Biondi.

Jetzt gibt es also „Bajazet“ (Name im Autograph von Turin) erstmals  als „Il Tamerlano“ (Titel der gedruckten Fassung) mit der Accademia Bizantina unter der kundigen Leitung von Ottavio Dantone, auch er ein Vielbeschäftigter in der Vivaldi Edition. Für die Karnevalssaison 1735 geschrieben, handelt es sich beim in Verona uraufgeführten „Il Tamerlano“ um ein Pasticcio. Kulinarisch basiert sowas auf „Restln“, in der italienischen oder griechischen Küche ist mit Pasticcio ein fetter Nudelauflauf mit Rind- oder Lammfleisch gemeint. In der Musik gilt als Pasticcio ein Reshuffle überwiegend vorhandener Arien eines Komponisten, wobei im Selbstbedienungsladen Barock natürlich auch der lockere Griff in fremde Partituren gang und gäbe war. Urheberschutz gab es nicht. Hätten Tonsetzer schon damals über PCs, Notebooks & Co verfügt, wäre so ein Pasticcio ein klassischer Fall für ,copy and paste‘ gewesen.

Zumindest die Rezitative, die einleitende Sinfonia und das Quartett am Ende des vierten Akts stammen von Vivaldi selbst, sind aber früheren Werken entlehnt. Nicht mehr als vier Nummern hat Vivaldi für die Premiere neu geschrieben, zwei davon fehlen in der Partitur. Acht weitere werden ihm zugeschrieben. Jedenfalls stammen drei Arien von Geminiani Giacomelli, drei von Johann Adolf Hasse, zwei von Riccardo Broschi (Anm.: das war der Bruder Farinellis) und eine von Nicola Porpora. Allerdings hat Vivaldi sämtliche Nummern, die von Asteria und Bajazet gesungen werden, selbst komponiert. In der vorliegenden Aufnahme werden fünf Arien rekonstruiert.

Zur Handlung: Der Tartaren-Boss Tamerlano hat den türkischen Sultan Bajazet besiegt und samt dessen Tochter Asteria eingesperrt. Asteria liebt den griechischen Prinzen Andronico, einen Verbündeten Tamerlanos. Es wäre keine Oper, wenn nicht auch Tamerlano der hohen türkischen Gefangenen Asteria mehr oder weniger galante Gefühle entgegenbringen würde. Um freie Bahn zu haben, soll daher seine Verlobte Irene kurzerhand Andronico heiraten. Bajazet ist not amused und auch Asteria ist sauer, weil sie glaubt, dass Andronico bei der Intrige Tamerlanos mitspielt. Nach zwei Mordversuchen von Asteria an Tamerlano tötet Bajazet sich selbst. Irene und Andronico setzen sich für Asteria ein. Das wirkt: Tamerlano erlaubt Andronico und Asteria die Heirat, als Draufgabe erhalten sie den Thron von Byzanz. Der Tartarenherrscher geht wieder zu Irene zurück. Ob das gut geht? Also irgendwie doch kein Happy End.

Unser Prete Rosso war ein Tausendsassa, der nicht nur Berge an Partituren hervorbrachte und montierte, sondern auch als Impresario und Produzent wirkte, die Opern mit den Sängern selbst einstudierte, vom Cembalo aus dirigierte und sich auch um die kommerzielle Verwertung seiner Musik kümmerte. Seine stilistische Handschrift ist einprägsam.

Von Anton Bruckner heißt es, er habe zehn Mal dieselbe Sinfonie geschrieben. Dabei würde dieser blöde Spruch (mit einem kleinen Funken Wahrheit) auf Vivaldi eher zutreffen, was seine Violinkonzerte oder Opern betrifft. Und dennoch, die Variabilität in den Effekten, die vielen eingängigen Melodien, mit teils kühnen Harmonien gewürzt und der gezielte Einsatz von Instrumentierung und Soli führen dazu, dass Vivaldis Opern zu genussreichen Begegnungen einladen. Zumal bei Vivaldi die Sänger im Vordergrund stehen, denen er Virtuoses und Sentimentales, Leidenschaft und Galanterie gleichermaßen in die goldenen Gurgeln schrieb. Ungeachtet eines hohen Wiedererkennungswerts zählen Vivaldis Arien zum schönsten, was der italienische Barock an Vokalmusik hervorgebracht hat.

Das sängerische Niveau ist mit Einschränkungen als gut, auf jeden Fall als stets engagiert und stilsicher zu werten. Der viril körnige Bariton von Bruno Taddio als Bajazet gefällt mir vom Timbre und Ausdruck ausgezeichnet, er hat aber (zu) wenig Volumen in den unteren Registern (z.B.: Arie Veder parmi or che nel fondo“ im dritten Akt). Taddio klingt auch nicht so füllig balsamisch wie der junge Bassbariton lldebrando D‘Arcangelo in der Biondi Aufnahme. Was ihm unten fehlt, das geht dem Countertenor Filippo Mineccia als Tamerlano oben ab. Dementsprechend scharf und überfordert klingen Spitzentöne. Da entschädigt auf Dauer auch die rund üppige Mittellage nicht: Eine Fehlbesetzung, wenn die Tessitura der Rolle als einer der Besetzungsmaßstäbe gelten sollte. Die eher im Lyrischen heimische französische Altistin Delphine Galou als heiß begehrte Asteria verfügt über ein ausgesprochen interessantes, androgynes Timbre. In dramatischeren Passagen stößt sie an Grenzen. Arianna Venditelli in der Rolle des Idaspe trillert und zwitschert die Verzierungen ganz wunderbar. Die Mezzosopranistin Sophie Rennert als Irene hat wohl die schönste und bekannteste Arie des Stücks „Sposa son disprezzata“ zu singen. Die Italienerin Marina De Liso in der Hosenrolle des griechischen Prinzen Andronico wirft einen leichtgängigen höhenlastigen Mezzo in die Waagschale und gewinnt auf voller Länge.

Fazit: Glücksstoff für trotz Corona beschwingte Sonntagnachmittage.

Antonio Vivialdi
Il Tamerlano
Accademia Bizantina | Ottavio Dantone
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