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Jüdische Kulturtage 2023 in Berlin: Abschlusskonzert

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Berlin-Synagoge-oranienburger-straße

„Verklärte Nacht“ nannte der Lyriker Richard Dehmel sein Gedicht, in dem ein Mann und eine Frau durch eine mondhelle Nacht gehen. Unglücklich gesteht sie ihm, von einem anderen Mann schwanger zu sein. Doch ihr Geliebter zeigt Nachsicht und verspricht, das Kind anzunehmen. Es ist eines der typischen Gedichte des Lyrikers, in dem Liebe und Sexualität offen zur Sprache kommen. Sicher ungewöhnlich im Jahr 1896, als sein Band „Weib und Welt. Gedichte und Märchen“ erschien. Und dennoch, Richard Dehmels Gedichte hatten schon so manchem Komponisten die Grundlage für ihre Werke geliefert. Auch Arnold Schönberg kannte und bewunderte sie. 1899 schließlich schrieb er „Verklärte Nacht“ für ein Streichsextett und landete damit quasi einen Hit in der Klassikszene. Bis heute zählt es zu seinen meistgespielten Werken.

Der israelische Violinist, Komponist und Dirigent Guy Braunstein kennt und liebt das Streichsextett seit seinen Kindertagen. Er war zwölf, als er es zum ersten Mal spielte. Seitdem begleitet es ihn durch sein Leben. „Wenn ich es nicht selbst spielte, so habe ich das Stück immer in meinem Kopf gehabt. Dabei ließ ich meiner Fantasie freien Lauf. An manchen Stellen konnte ich mir gut statt der Streicher auch Blechbläser oder Holzinstrumente vorstellen. Außerdem fand ich, dass man das Gedicht auch hervorragend als Dialog vertonen kann. So wuchs nach und nach die Idee, „Verklärte Nacht“ als Orchesterfassung mit zwei Stimmen zu arrangieren“, erklärt er die Entstehungsgeschichte der Uraufführung von „Die Nacht wird immer verklärter“, die den Abschluss der Jüdischen Kulturtage bildet. Im dänischen Tenor Peter Lodahl fand er einen gleichgesinnten Mitstreiter. „Ich sagte ihm, dass ich es nur mache, wenn er singt“ schmunzelt Guy Braunstein und schrieb dem Tenor die neue Fassung auf den Leib. Die Sopranistin Sophie Asplund übernimmt in Berlin die Stimme der Ida. Nun fehlte noch ein geeigneter Librettist. „Ich musste etwas suchen“, gesteht Braunstein. Aber er kenne die Arbeit von Daniel Arkadij Gerzenberg. Und so entstand ein reger Austausch mit dem Hamburger Pianisten, bevor die neue Fassung fertig war. „Es war das erste Mal für mich, dass ich ein solches Projekt machte. Ich habe komponiert, er getextet – es war wie ein Tischtennisspiel, bei dem wir uns ständig hin- und herschrieben“, lacht Guy Braunstein. Lange hätte es gedauert, bis beide Seiten zufrieden waren, aber es hat sich gelohnt.

Statt sich auf die fünf Strophen des Ausgangsgedichts zu beschränken, hat Daniel Gerzenberg der neuen Fassung die Biographie Dehmels zugrunde gelegt. Seine außergewöhnliche Liebesgeschichte bietet auch genug Stoff, um das Ursprungsgedicht zu erweitern und in einen größeren geschichtlichen Kontext zu setzen. 1901 heiratete der Lyriker Ida Auerbach. Kennengelernt hatten sich beide einige Jahre zuvor, jeweils noch anderweitig verheiratet und Ida zudem schwanger. Sie verließen ihre Partner und wurden als Paar legendär, bis der Erste Weltkrieg der Einheit ein Ende bereitete. Dehmel starb 1920 an den Folgen einer Kriegsverletzung, Als Jüdin wurde Ida nach der Machtergreifung der Nazis systematisch ausgegrenzt. Kurz vor ihrer Deportation beging sie mit 72 Jahren 1942 Selbstmord.

Für sein Libretto arbeitete Gerzenberg sich in Briefe, Tagebucheinträge und Gedichte des Künstlerpaars ein, erfasste ihren Sprachduktus und schuf ein Zwiegespräch, das am Vorabend von Idas Suizid zwischen ihr und Richard Dehmel stattfindet. Gerzenberg und Braunstein verschränken dabei das ursprüngliche Gedicht und die Auswirkungen des Dritten Reichs, die auch Arnold Schönberg zu spüren bekam. 1933 emigrierte er in die USA. So erfuhr die „Verklärten Nacht“ durch die instrumentale, gesangliche und textliche Erweiterung eine Steigerung, die sich schlussendlich im neuen Titel „Die Nacht wird immer verklärter“ ausdrückt.

Zwei Werke aus derselben Zeit wie das Gedicht runden das Programm des Abschlusskonzerts am 14. September ab: „The Lark Ascending“ des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams aus dem Jahr 1914 und Antonín Dvořáks 1893 uraufgeführte 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt”. „Der Übergang zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert ist für mich der interessanteste Teil der Musikliteratur. Seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis ungefähr 1930 hat sich die klassische Musik in verschiedenste Richtungen entwickelt“, erklärt Guy Braunstein die Dramaturgie des Abends. Während auf der einen Seite Debussy und Ravel als Vertreter des Impressionismus in der Musik standen, gingen Prokofjew und Strawinsky in die Moderne. Schönberg, Berg und Webern formten hingegen die Zweite Wiener Schule, während Ralph Vaughan Williams die englische Renaissance wiederentdeckte. „Alle drei Stücke des Abends“, so Guy Braunstein, „zeigen diese verschiedenen Richtungen. Das Publikum darf sich also auf ganz unterschiedliche Werke der Musikliteratur aus einer Zeit freuen!“

Abschlusskonzert der 36. Jüdischen Kulturtage Berlin
Klassikkonzert, Uraufführung
Arnold Schönberg/Guy Braunstein: Die Nacht wird immer verklärter

14. September, 20 Uhr
Synagoge Rykestraße, Rykestraße 53, 10405 Berlin
Tickets: hier

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Jewish Cultural Days 2023 in Berlin: Final Concert
The poet Richard Dehmel named his poem „Transfigured Night,“ in which a man and a woman walk through a moonlit night. Unhappily, she confesses to him that she is pregnant by another man. However, her lover shows compassion and promises to accept the child. It’s one of the poet’s typical works where love and sexuality are openly discussed. Certainly unconventional in 1896 when his collection „Woman and World: Poems and Fairy Tales“ was published. Yet, Richard Dehmel’s poems had already served as the basis for many composers‘ works. Arnold Schoenberg, too, knew and admired them. In 1899, he composed „Transfigured Night“ for a string sextet, essentially landing a hit in the classical music scene. To this day, it remains one of his most performed pieces.

The Israeli violinist, composer, and conductor Guy Braunstein has known and loved the string sextet since his childhood. He was twelve when he first played it, and it has accompanied him throughout his life. „Even when I wasn’t playing it myself, the piece was always in my head. I let my imagination run wild. In some parts, I could envision brass or woodwind instruments instead of strings. Additionally, I thought the poem could be wonderfully adapted as a duet. So, gradually, the idea of arranging ‚Transfigured Night‘ as an orchestral version with two voices came about,“ he explains the history behind the premiere of „The Night is Ever More Transfigured,“ which concludes the Jewish Culture Days. He found a like-minded partner in the Danish tenor Peter Lodahl. „I told him I would only do it if he sings,“ Guy Braunstein says with a smile, and he tailored the new version to fit the tenor. In Berlin, soprano Sophie Asplund will voice Ida. All that remained was to find a suitable librettist. „I had to search a bit,“ Braunstein admits, but he was familiar with Daniel Arkadij Gerzenberg’s work. Thus, a lively exchange with the Hamburg pianist led to the completion of the new version. „It was the first time for me to embark on such a project. I composed, he wrote the text – it was like a game of table tennis, with us constantly volleying back and forth,“ Guy Braunstein laughs. It took a while for both sides to be satisfied, but it was worth it.

Instead of confining itself to the five stanzas of the original poem, Daniel Gerzenberg based the new version on Dehmel’s biography. His extraordinary love story provided ample material to expand the original poem and place it in a broader historical context. In 1901, the poet married Ida Auerbach. They had met several years earlier, both still married to others and Ida pregnant at the time. They left their respective partners and became a legendary couple until World War I put an end to their unity. Dehmel died in 1920 from injuries sustained in the war. As a Jew, Ida was systematically marginalized after the Nazis came to power. Shortly before her deportation, at the age of 72 in 1942, she took her own life.

For his libretto, Gerzenberg delved into letters, diary entries, and poems of the artist couple, capturing their linguistic style and creating a dialogue that takes place on the eve of Ida’s suicide between her and Richard Dehmel. Gerzenberg and Braunstein interweave the original poem with the impact of the Third Reich, which also affected Arnold Schoenberg. In 1933, he emigrated to the United States. Thus, „Transfigured Night,“ through instrumental, vocal, and textual expansion, experiences an enhancement expressed in the new title, „The Night is Ever More Transfigured.“

Two works from the same period as the poem round out the program of the closing concert on September 14: „The Lark Ascending“ by English composer Ralph Vaughan Williams from 1914 and Antonín Dvořák’s Symphony No. 9, „From the New World,“ premiered in 1893. „The transition between the 19th and 20th centuries is the most interesting part of music literature for me. From the late 19th century until around 1930, classical music evolved in various directions,“ explains Guy Braunstein regarding the evening’s dramaturgy. On one side stood Debussy and Ravel as representatives of musical Impressionism, while Prokofiev and Stravinsky ventured into Modernism. Schönberg, Berg, and Webern formed the Second Viennese School, whereas Ralph Vaughan Williams rediscovered English Renaissance. „All three pieces of the evening,“ according to Guy Braunstein, „represent these different directions. So, the audience can look forward to very different works of music literature from that era!“

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