Von Izidor Mendas.
„Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Kunst. Kunst ist für jeden da.“ Diese Worte des US-amerikanischen Ausnahmekünstlers Keith Haring (1958-1990) sind bei Besuchern der umfassenden Ausstellung seiner Werke in der Wiener Albertina unter dem Titel „Keith Haring – The Alphabet“ anscheinend gut angekommen. Man freut sich beim Anblick eines breitgefächerten Publikums, darunter gibt es sehr viele junge Gesichter, das entweder nachdenklich oder live über Social Media den Künstler zelebriert. Und wenn neben Touristen aus Brasilien ein wienerisches „ned schlecht“ erklingt, weiß man, dass die Ausstellung wirklich alle Zielgruppen erreicht hat.
In den 80er-Jahren war New York eine dreckige, gefährliche, drogensüchtige, aber auch faszinierende Metropole, deren Oberflächen zur Spielwiese der jungen Kreativen wie Jean-Michel Basquiat und Keith Haring wurden. Weg mit der normativen Wertschätzung, Elitismus, sozialer Ausgrenzung und Malerei im Elfenbeinturm, hoch lebe die Street-Art! Haring malte überall: auf verlassenen Hausfassaden, Autos, am Boden, bei Hop-Hop Events und vor allem in der U-Bahn. Nur in Jahren 1980-85 entstanden so (illegal) zwischen 5.000 und 10.000 Subway-Zeichnungen. Ironischerweise hat die damalige Stadtverwaltung die mit weißer Kreide auf schwarzem Hintergrund gezeichnete Bilder, die heute bei Auktionen hohe Beträge erzielen und einfach zum Stadtpanorama gehören, verpönt und systematisch entfernt. Der anarchische Haring war in dieser Periode äußerst produktiv und vielfältig. Unter seinen Werken befinden sich sogar eine Imitation der griechischen Vasenkeramik mit obszönen Motiven, farbenfrohe Freiheitsstatue aus Glasfaser (zusammen mit Ángel Ortiz) und fluoreszierende Bilder für Clubs oder Breakdance Events.
Die meisten seiner Werke heißen einfach „Ohne Titel“, sie sind aber keine Abstraktionen, obwohl sich Haring am Anfang seiner Karriere vom abstrakten Expressionismus inspirieren ließ. Im Gegenteil, durch seine Figuren und Zeichen entsteht ein einmaliges künstlerisches Alphabet. Das Infantile und Bizarre (UFOs und Smiley Face) vermischt sich mit den auf Kopf gestellten Traditionen und Phänomenen der Massenkultur (Mickey Mouse, auch als Reinkarnation von Andy Warhol). Innerhalb weniger Jahre hat Haring seine eigene Symbolsprache entwickelt. Eine besonders wichtige Rolle spielt zum Beispiel der Hund, der bellend, heuchelnd oder beißend, beschützend oder zerreißend, für Mensch und Tier steht, oder schlicht als Signatur des Künstlers dient. So erinnert der Hund einmal an ägyptischen Gott Anubis, der im Totentanz mit menschlichen Figürchen spielt (Ohne Titel 1982) und auf einem anderen Bild tanzen zwei Hunde fröhlich, fast hört man die Beats (Ohne Titel 1981). „Radiant Baby“ versinnbildlicht Hoffnung, bessere Zukunft und Vollkommenheit; dazu kommen noch unzählige Motive wie Delfin, Mischwesen, Glühbirne, Genitalien, Herz, Umarmung, gepunktete Körper, gedeckte Augen… Besonders interessant ist das Symbol „X“, der eine Objektivierung darstellt. Ist auf dem berühmten Bild, wo vier große Hände die Figur mit rotem X in alle Himmelsrichtungen ziehen bzw. vierteln wollen (Ohne Titel 1985), die Generation X gemeint, die so zur Zielscheibe der gesellschaftlichen Missverhältnisse wird? Diese visuelle Bild-Wort-Sprache ist höchst persönlich, erhebt aber einen universelleren Anspruch. Sein zeichnerisches Talent setzt die Tradition von Dürer, Goya und Picasso lebendig fort. Prähistorisch anmutende Piktogramme treffen auf Popkultur, ergänzt durch prächtige Fülle an virtuosen Linien und genau durchdachten Einsatz von Farben.
Harings semiotische Zeichnungen kommen uns zwar vertraut vor, sie stellen aber auch unsere Weltanschauung in Frage. Überall, wo diese Codes auftauchen, wird eine starke Botschaft übermittelt, eine Realität verfremdet, man kann sie aber unabhängig davon als ein Festmahl aus Formen und grellen Farben wahrnehmen. Haring war nicht nur eine homosexuelle Künstlerikone, die gegen AIDS Vertuschung kämpfte, er war auch ein subtiler Saboteur, der die gesellschaftlich akzeptierten Lügen bloßstellte.
Schritt für Schritt entdecken wir Harings Universum. Ein goldenes Kalb oder rote Affe werden zum Götzenbildern (Ohne Titel 1985), von denen sich die Menschenmassen manipulieren lassen. Loch im Bauch (Ohne Titel 1982) dient als Hommage an John Lennon und verweist gleichzeitig auf die Leere in uns. Man soll jedoch nicht alles zu ernst nehmen. Bei seinem Selbstporträt (1985) lacht Haring heimlich wie in einem Comic. Die Abweichung von der Norm kann durchaus positiv konnotiert sein, wie bei der ikonischen Umarmung (Ohne Titel 1982), obwohl die Differenzen immer wieder von Vorurteilen angegriffen werden. Hautfarbe und Homosexualität waren in der Zeit seines Schaffens höchst umstrittene Themen. Was andere verschweigen wollen, wird provokant zur Schau gestellt. Seine Malerei ist gleichzeitig Theorie und Praxis, ein Labor des menschlichen Versagens und der neuen Ideen. Die Matrix (1983), rund 15 Meter lang, wird von alten Tapisserien inspiriert und ist zweifelsohne eines seiner Meisterwerke. Es handelt sich um eine Synthese der Harings Ideenwelt: in schwarz-weiß erkennen wir das typische Bildvokabular (Hund, Baby, TV, Herz, Pyramide…), jedes Minizeichen wird zum Energiestrahl, jedes einfaches Element wird zum Teil des großen Ganzen, so werden die chaotischen Höhepunkte und Abgründe unserer Existenz erforscht, dargestellt als eine Würdigung der Moderne des 20. Jahrhunderts.
Haring kunstgeschichtlich einzuordnen ist schwierig, irgendwo zwischen Pop Art und Dadaismus schwebt sein Werk, wobei der aktive gesellschaftliche Diskurs im Mittelpunkt steht. Besonders der US-amerikanische Imperialismus, wilder Kapitalismus, Unterdrückung der Minderheiten und moderne Konsumgesellschaft werden heftig kritisiert und man wundert sich nicht, wenn der Mensch schließlich auf dem Kopf gestellt am Kreuz endet (Ohne Titel 1984). Manchmal ist der technologische Fortschritt explizit thematisiert: eine Raupe verwandelt sich ins computergesteuerte Ungeheuer (Ohne Titel 1983), was aber nicht notwendig zu seinen ästhetisch überzeugendsten Leistungen zählt. Sehr rührend sind die Kunstwerke aus seiner späteren Schaffensphase. Die menschenähnlichen Gestalten formen ein kaum durchschaubares, farblich sehr anziehendes Labyrinth (Ohne Titel 1988). Da wird eine dystopische Welt geschaffen, manchmal als eine große Paraphrase der Hölle von Hieronymus Bosch (Ohne Titel 1986) oder personifizierten AIDS-Monster der alles verschlingt (Ohne Titel 1985). Es ist eine Vorahnung des eigenen Schicksals. 1988 wurde Haring HIV-positiv diagnostiziert und starb nur 2 Jahre später. Während seiner Blitzkarriere hat er sich ständig sozial engagiert, Workshops mit Kindern veranstaltet, die gemeinnützige Keith Haring Foundation gegründet, mit Modegrößen gearbeitet… Er wurde zu einer Kunstlegende stilisiert, wir sollen aber nicht vergessen, wozu uns sein Werk aufruft: Widerstand, Toleranz und Freiheit. Eine große und inspirierende Ausstellung!
Keith Haring. The Alphabet
Ausstellung bis zum 24. Juni 2018
Albertina Museum
Albertinaplatz 1
1010 Wien
Öffnungszeiten:
Montag, Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag: 10 bis 19 Uhr
Mittwoch und Freitag: 10 bis 21 Uhr
12,90 Euro sowie diverse Vergünstigungen.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.