Kolumne von Susanne Falk.
Oh, nein! Ich habe ja immer befürchtet, dass dieser Tag irgendwann kommen wird, aber am Ende hat es mich dann doch kalt erwischt. Nun ist es erst einmal vorbei mit dem Lesegenuss, denn: Ich sehe ab sofort alles!
Da saß ich also, in meinem neuen Lesesessel, den ich zwar von meinem Geld gekauft hatte, der aber permanent von Kind, Kegel oder Katze besetzt wurde und der nun, welch himmlische Fügung, endlich frei war, neben mir einen Milchkaffee, vor mir ein Buch, und plötzlich war die Welt eine andere – allerdings nicht auf gute Art und Weise. Ich erkannte plötzlich all die kleinen Tricks und Spielereien, die der Autor anwandte, um Schwächen in der Handlung zu kaschieren oder die Stellen, an denen er sich besonders genial vorgekommen war, wenn er einen Witz machte. Ich litt unter Déformation professionelle! Vorbei war es also mit dem unschuldigen Lesevergnügen.
Dass wir uns richtig verstehen: Ich arbeite seit Jahren als Lektorin, d.h. Schwächen in Büchern auszumachen ist schon mal nichts Neues für mich. Logikfehler, Tempusfehler, schlechter Stil – das habe ich zuvor auch schon alles bemerkt. Aber nun konnte ich mit einem Mal wahrnehmen, was der Autor sich beim Schreiben eines Satzes gedacht hatte! Ich erkannte das Handwerkszeug, das er benutzte, einfach deshalb, weil es das gleiche Handwerkszeug war, das ich auf meine eigenen Texte anwandte.
Das Alphabet hat ja nur ein gewisse Anzahl Buchstaben und Schreiben ist daher keine Hexerei (heißt: Autoren kochen schließlich alle nur mit Wasser). Aber das kam mir dann doch seltsam vor. Ich kann schließlich nicht Hellsehen! Woher sollte ich also wissen, was der Autor sich beim Schreiben gedacht hatte? Für so etwas müssen Germanisten für gewöhnlich erst eine intensive Quellenanalyse betreiben, Briefe und Tagebücher auswerten und dann mühsam ein Puzzle zusammensetzen, das am Ende Auskunft über den Geisteszustand des Autors beim Schreiben gibt. Ach so, Germanistin bin ich übrigens auch noch – nicht unbedingt hilfreich, wenn man eine solche Déformation professionelle wieder loswerden will, weil man beim Lesen fremder Texte plötzlich das eigene Können oder, schlimmer, Nichtkönnen analysiert. Stellen Sie sich das so vor wie einen Koch, der nicht mehr gerne essen geht, weil er genau weiß, was sein Kollege in der Küche so treibt…
Was also tun? Ich wählte den Weg des geringsten Widerstandes: Fernsehen! Statt mich weiter mit Texten zu beschäftigen, zog ich mir einen Film nach dem anderen rein, alles, was ich in den letzten Wochen und Monaten so verpasst hatte: „Good Luck to You, Leo Grande“ (Hinreißend!!!), „Monsieur Claude und sein großes Fest“ (leider nicht so lustig wie Teil 1 und 2 der Reihe) und natürlich die ganze finale Staffel von „The Good Fight“ (überraschend skurril, aber gut und mit der besten Christine Baranski aller Zeiten). Das war zwar kurzweilig, aber mein Problem löste sich erst, als ich „Blithe Spirit“ (auf Deutsche „Da scheiden sich die Geister“) anschaute: Einem Schriftsteller fällt leider nichts mehr ein, weil er ohne seine verstorbene erste Ehefrau nicht schreiben kann (Stichwort Ghostwriter/Muse) und er erst wieder Erfolg hat, als durch widrige Umstände ihr Geist in sein Leben tritt. Nur setzt dieses geisterhafte Wesen eine Kette schrecklicher Umstände in Gang, die letztlich eine Menge Tod und Chaos bedeuten. Am Ende stellt sich heraus, dass alles ein Plagiat war. Und ich konnte plötzlich wieder beruhigt schlafen, denn: Ich war tatsächlich keine Hellseherin. Es ist nur so, dass alles schon mal dagewesen zu sein scheint. Kein Wunder, dass es beim Lesen hin und wieder zu Déjà-vus kommt… Puh, da bin ich aber beruhigt. Dann kann ich mich ja jetzt in meinen Lesesessel… nein, zu spät, da sitzen schon wieder Kind und Katze drin.
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