Kolumne von Susanne Falk.
Es soll ja Menschen geben, die kaufen Bücher nach Gewicht: je dicker desto besser. Andere kriegen schon zu viel, wenn ein Buch an der 256-Seiten-Marke schrammt. Aber lässt sich Literatur an ihrem Gewicht messen?
An der Universität belegte ich einst ein Seminar beim legendären Professor Wendelin Schmidt-Dengler mit dem Titel „Schwere Literatur“. Das Wort „schwere“ bezog sich sowohl auf den Inhalt wie auch auf den Umfang der besprochenen Bücher. Das war ein Seminar für echte Freaks und ich war gerne einer von denen, obwohl ich, ich gebe es zu, dicke Bücher eher selten gerne lese.
Mein Urteil über Bücher jenseits der 600 Seiten ist eigentlich durch nichts zu belegen und natürlich rein subjektiv, aber ich vertrete die Ansicht, dass alles, was mehr als 600 Seiten hat, Längen aufweist. Es ist reichlich schwer, einen Spannungsbogen so lange stabil aufrecht zu erhalten. Bei rund 600 Seiten (und die sind natürlich immer vom Druckbild abhängig) bricht er spätestens ein, auch bei großen Autorinnen und Autoren. Selbst Umberto Ecos „Der Name der Rose“, in meiner Ausgabe ca. 800 Seiten umfassend, hat eindeutig Längen. Trotzdem verbinde ich damit eines der schönsten Lektüreerlebnisse meines Lebens – und eine gewisse Übelkeit. (Ich habe das Buch auf dem Rücksitz eines Autos auf einer Dänemarkreise verschlungen und leider wird mir beim Lesen im Auto immer schlecht. Trotzdem – ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Es war also ein ständiges Abwägen zwischen ungutem Gefühl in der Magengegend und absolutem Lesehunger.)
Natürlich gibt es auch das Gegenteil, nämlich die Erzählungen, die, zu Romanen aufgeblasen, plötzlich Bücher von 120 Seiten ergeben, obwohl das Manuskript ziemlich sicher keine 60 Seiten umfasst hat. So etwas zu verkaufen ist schwierig, die Leserschaft fühlt sich hier schnell betrogen. Man fordert da ganz gerne mehr Worte fürs Geld ein, oft nicht einmal zu Unrecht. Peter Handke und der Suhrkamp Verlag sind hier besondere Spezialisten an der sparsamen Wörterfront. Aber sagt das etwas über die Qualität des Werkes aus?
Ernest van der Kwasts „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ ist eines meiner Lieblingsbücher und hat auch nur knappe 96 Seiten vorzuweisen. Nichts für Fans von dicken Historienschinken, aber großartige Literatur. Genauso wie Prousts ewiger Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ist die Textlänge also egal?
Im Seminar zur schweren Literatur plagte ich mich mit den anspruchsvollen Werken genauso herum wie mit den dicken. Paul Celan wäre ohne fachkundige Anleitung des Professors für mich bis heute kaum zu entschlüsseln. Aber die Lust am Scheitern war trotzdem groß! Es ging nicht darum, sich gezielt zu frustrieren, sondern das eigene Unvermögen zu akzeptieren. Nicht verstanden? Macht nichts, wenigstens probiert. Nicht geschafft? Macht auch nichts, wenigstens 200 Seiten eines großen Werks gelesen, wenn auch nicht das ganze.
Dicke Bücher zu kaufen und zu lesen, hat etwas ungewohnt Sportliches. Sich an einem Kurztext über Wochen die Zähne auszubeißen auch. Qualität bemisst sich nicht am Umfang eines Werkes, sondern daran, ob es zu einem spricht. Die einen hören halt gerne länger zu als die anderen. Und wem wenige Worte reichen, um im Inneren etwas anzustoßen, dem sei „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ wärmstens empfohlen…
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