Kolumne von Susanne Falk.
Wir stehen dieser Tage überall Schlange: Vor dem Bäcker (da darf nur ein Kunde hinein), vor dem Spielzeugladen (vier Kunden auf einmal), vor der Supermarktkassa (da sind es viele, aber mit meeeterlangem Abstand, so dass die Schlange einmal durch den halben Sparmarkt reicht) und demnächst sicher auch vor den Museen. Und ich merke wieder einmal: Geduld ist eine Tugend, die ich nicht besitze.
In alten Zeiten hatte man ja so seine Vorstellungen davon, was tugendsam war. Das galt vor allem für die Frauen: Sittsam, reinlich, fürsorglich, treu liebend und keusch sollten sie sein. Ich bin definitiv gar nichts davon. Ich fluche gerne und oft, ich suche den Matsch auf meinen Hosen nicht, aber er findet mich (bevorzugt auf Spielplätzen), ich keife öfters mal herum, wenn mir als Mutter alles zuviel wird, ich hab meine Familie daheim zwar lieb, habe aber durchaus schon darüber nachgedacht, heimlich und ohne sie auszuwandern (Corona-Krisen bedingt ist das derzeit nicht möglich – leider) und das mit der Keuschheit… LOL. Die Tugendhaftigkeit wird also eindeutig überschätzt. Oder bin ich da nur nicht auf dem neuesten Stand?
Die Briten können es ja angeblich am besten, das mit dem Schlangestehen. Reihen sich brav hintereinander ein, murren nicht, drängeln nicht vor und warten, bis sie an der Reihe sind. So das gängige Vorurteil. Die Deutschen dagegen können es gar nicht, weil sie es hassen Schlange zu stehen. Deutsche, auch so ein Klischee, mögen es effektiv. Schlangen sind nicht effektiv, Schlangen sind ein Zeichen dafür, dass etwas nicht funktioniert.
Ich habe es in meiner Jugend einmal auf zwei Stunden Wartezeit in einer Schlange gebracht. Gut, da war ich auch noch jung, hatte gesunde Beine und keine zwei quengelnden Kinder an meiner Seite, die alle zehn Sekunden fragen, wann sie denn jetzt endlich, endlich einen Schleich-Dino kaufen können. Also hab ich brav zwei Stunden auf meinen Eintritt in die Ausstellung „Die Dame mit dem Hermelin“ gewartet. Als ich endlich an der Reihe war, musste ich feststellen, dass die gesamte römische Leonardo-da-Vinci-Ausstellung aus genau diesem einen Bild bestand. Meine mangelnden Italienischkenntnisse hatten mich dazu verleitet anzunehmen, es gäbe außer der Dame mit dem Hermelin noch andere Bilder des Meisters zu sehen. Gab es aber nicht. Und so verbrachte ich einige Minuten andächtig vor dem Gemälde und trollte mich dann wieder. Das Merkwürdige an der Sache war: Ich weiß noch gut, wie wenig mich der Umstand bekümmerte, dass ich zwei Stunden Lebenszeit damit verbracht hatte, auf den Anblick eines einzigen Bildes zu warten und dann mit dem Ergebnis höchst zufrieden war. Ich hatte ein Meisterwerk gesehen und es war so großartig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es hatte zum Glück nicht mehr gebraucht.
Ob das die Besucher, die sich demnächst in die Schlangen vor den Museen Wiens einreihen, auch so sehen werden? Oder muss es schon ein Leonardo sein, damit man das alles klaglos in Kauf nimmt? Soweit mir bekannt, gibt es in Wien keinen Leonardo, wohl aber diverse andere sehenswerte Künstler. Ob es für den vollkommenen Kunstgenuss wohl reicht, nach langer Warterei einmal zehn Minuten „Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel anzusehen und dann wieder zu verschwinden?
Mir fällt gerade ein, dass ich damals nicht allein dort in der langen Schlange unter der Sonne Roms stand, um der Hermelindame zu huldigen. An meiner Seite, oder, besser gesagt, in der Reihe gleich vor mir, stand meine britische Freundin Sarah. Ich erinnere mich gut an ihr rotes Haar im Sonnenschein und wie viel wir miteinander gelacht haben, als wir dort warteten. Wir hatten ja Zeit und der Umstand, dass britischer Humor selbst die ungeduldigste, tugendlose Deutsche besänftigen kann, spielte sicher auch eine Rolle.
Die „Dame mit dem Hermelin“ befindet sich übrigens im Krakauer Czartoryski-Museum. Nur falls Sie in ferner Zukunft einmal die Lust überkommt, irgendwo sinnvollerweise Schlange zu stehen. Aber nehmen Sie eine britische Staatsbürgerin mit. Man weiß ja nie…
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