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Münchner Opernfestspiele 2024: Christian Gerhaher singt Schumann

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker Musik

Der Festspiel-Liederabend des Baritons im Prinzregententheater mit Gerold Huber am Klavier. Von Stephan Reimertz.

Wenn Sie an einem ganz gewöhnlichen Tag in die Tate Britain am Millbank gehen, werden Sie zu Ihrem Erstaunen feststellen, dass trotz prominenter Gemälde wie William Blakes Newton, William Hogarths The Painter and His Pug oder Whistlers Symphony in White kein anderes Bild soviel Betrachter vor sich zu bannen vermag wie die Ophelia des John Everett Millais. Tatsächlich genoss die schöne Ertrunkene aus Shakespeares Drama in den 1850er Jahren, denen Millais’ Querformat entstammt, Kultstatus. Robert Schumann griff in jener Zeit den Zauber der toten Dahintreibenden nach dem Gedicht von Titus Ullrich auf, was wiederum darauf hindeutet, dass der Ruhm dieser Wasserleiche kein rein britischer, sondern ein europäischer war. Christian Gerhaher beginnt mit dem wehmütigen Ophelia-Lied sein Konzert vor Freunden, so kann man es sagen; der Münchner Bariton, an der Staatsoper oft zu hören, trifft im Prinzregententheater auf seine Getreuen, die mit ihm in Würde gealtert sind. Entsprechend warmherzig und aufmerksam zeigt sich das ausverkaufte Haus.

Ein analytischer Musiker

Christian Gerhahers Stimme ist ein einzigartiges Instrument, das durch seine Vielseitigkeit und seine Fähigkeit besticht, sowohl intellektuelle als auch emotionale Tiefe zu vermitteln. Im Vergleich zu anderen bekannten Baritonen zeichnet sich seine Stimme durch eine besonders ausgeprägte Kombination von Wärme, Dunkelheit und Ausdruckskraft aus. Zudem handelt es sich um einen hochintellektuellen Musiker, wie er nicht zuletzt in seinem jüngst erschienenen Buch wieder unter Beweis gestellt hat. Wir haben es mit einem Text und Musik bis ins letzte durchdringenden Musiker zu tun. Auch wenn er uns nun in einem reinen Schumann-Konzert sechs unveränderte Hefte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts präsentiert, kann der Zuhörer angesichts von Gerhahers hohem Reflexionsniveau nicht überhören, wie das späte neunzehnte Jahrhundert hier mitgedacht ist und nachklingt.

Greifbare Strukturen

Die Klage über eine weit abgeschiedene Ophelia in Ullrichs denkwürdigem Lied erscheint nicht ohne Momente von Resignation. Wie ein Gruß aus dem nassen Grab mutete es an, als man später über Schumanns Violinkonzert – und den Komponisten selbst – in Ophelias Worten sprach: O, what a noble mind is here o’erthrown! (Das den Zeitgenossen unverständliche Konzert erklang erst 1937 zum ersten Mal.) Mit seiner spezifischen Auswahl: Sechs Gesänge op. 107, Zwölf Gedichte von Justinus Kerner op. 35, Drei Gedichte op. 119, Drei Gedichte op. 30, Sechs Gesänge op. 89 sowie den Liedern und Gesängen, Heft IV, op. 96, stellt Gerhaher nach eigenem Bekunden »Das erzählende Kunstwerk« in den Mittelpunkt, d. h. narrative, beschreibende und anekdotische Figuren. Dichter wie Justinus Kerner, Gustav Pfarrius und Emanuel Geibel nehmen uns mit auf eine Wanderung durch die inneren Landschaften des neunzehnten Jahrhunderts und geben dem Sänger die Möglichkeit vieler Abschattierungen, vom Lyrischen über das Appellative, vom Klagenden bis zum Neckischen. Mit diesen sechs Heften wählte Gerhaher einige der fasslichsten Strukturen, die in Schumanns Liedschaffen zu haben sind.

Merkmale des Schumann-Liedes

Allein auch hier fallen die Unterschiede zu dem dreizehn Jahre älteren Franz Schubert auf. Die sehr klare und analytische Herangehendweise von Christian Gerhaher und seines Liedbegleiters Gerold Huber, beides passionierte Pädagogen, lassen den Hörer mühelos nachvollziehen, wie Robert Schumanns Harmonik sich auch in Kleinigkeiten oft komplexer und experimenteller gibt, nicht zuletzt durch modale Elemente. Schubert hingegen bevorzugte eine klarere und traditionellere Harmonik. Zudem ist Schumanns Themenmaterial oft fragmentarischer und sucht nach einer größeren Einheit innerhalb der Liedzyklen. Schubert gibt sich hingegen nicht selten eingängiger, seine Leider können leichter unabhängig vom Kontext bestehen. Gerhaher und Huber machen im Laufe des Abends deutlich, wie gern Schumann mit der kleinen Form experimentiert und ungewöhnliche Strukturen testet. Schubert hielt sich stärker an traditionelle Formen wie die Strophe oder die Ballade. Ist Schumanns Musik oft subjektiver und reflektiert seine inneren Konflikte stärker, gibt sich Schubert hingegen eher objektiv und erzählt Geschichten. Objektiv, klassisch, wenn man so will, ist freilich die Auswahl des Festspiel-Liederabends. Es ist ein ganz spezifischer Robert Schumann, der uns vorgestellt wird. So steht die Frage im Raum, ob der Komponist hier mit einfachen lyrischen Strukturen am besten fährt und es sich bei Stücken wie Ihre Stimme nach Platen oder gar Wanderers Nachtlied nicht um Fehlgriffe des Tonsetzers handelt. Das ikonische Goethe-Gedicht entzieht sich allein schon seines kulturellen Charismas wegen der Bearbeitung.

Spezifika eines Bariton

Die Stimme von Christian Gerhaher zeichnet sich durch eine Reihe von charakteristischen Merkmalen aus, die sie von denen anderer Baritone unterscheiden. Der Sänger gilt als einer der vielseitigsten Baritone seiner Generation. Er bewegt sich mühelos zwischen den verschiedenen Bereichen des Baritonfachs, von der Oper über das Lied bis hin zu Oratorien. Seine Stimme ist von einer einnehmenden Tiefe und Wärme geprägt, die sowohl Kraft als auch Zartheit ausstrahlen kann. Diese Kombination ermöglicht ihm, eine breite Palette an Emotionen auszudrücken. Zudem legt der Sänger großen Wert auf eine klare und verständliche Diktion. Seine Texte sind auch am Festspiel-Liederabend wieder gut artikuliert und leicht zu verstehen, was die Interpretationen besonders eindringlich macht. Gerhaher ist nicht nur ein reflektierter Sänger, sondern auch ein intellektueller Künstler. Er setzt sich intensiv mit den Werken auseinander, die er interpretiert, und bringt eine weitgehende musikalische und dramatische Einsicht in seine Interpretationen ein. Selbst in dem reinen Schumann-Konzert flammte die Erinnerung an seine Wozzek-Interpretation aus der Münchner Staatsoper auf. Hier profitierte ein Komponist des neunzehnten Jahrhunderts von Gerhahers Erfahrungen mit der musikalischen Moderne. Die Stimme klingt natürlich und ungekünstelt. Trotz der natürlichen Anmutung seiner Stimme verfügt Christian Gerhaher zudem über eine perfekte Gesangstechnik. Seine Stimme ist ausgeglichen und kontrolliert, was ihm eine große Flexibilität ermöglicht.

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FESTSPIEL-LIEDERABEND CHRISTIAN GERHAHER 2024 /
GEROLD HUBER und CHRISTIAN GERHAHER
Liederabend am 26. Juli 2024 im Prinzregententheater © Wilfried Hösl

Emphatische Erfahrung

Es war im Prinzregententheater nicht zu überhören, wie wenig Schumanns Lieder für einen Riesensaal und die Begleitung durch einen lauten Steinway-Flügel komponiert sind. Der Sänger und sein Liedbegleiter traten etwas informell, wie von einer Probe kommend, einem seinerseits alles andere als eleganten Publikum gegenüber. Freilich waren die Worte aus dem Zyklus der Sechs Gesänge von Wilfried von der Neun wörtlich zu nehmen: »Und an wetterheißen Tagen / Kennt man des Sommers Tyrannei.« Während die Damen im Fähnchen der Hitze trotzten, lassen uns Männer die Modeschöpfer bisher im Stich, was eine festlich-elegante und doch luftige Kleidung für Sommerfestspiele angeht. Christian Gerhaher ist ein intellektueller, analytischer Bariton. Strahlende Ausflüge in die Operette sind bei ihm schwer vorstellbar. Auch in seinen Zugaben schenkt man sich keine Rosen in Tirol und lässt die Bäume im Prater Bäume sein. Die beiden Zugaben in München eröffneten dennoch ein Terrain, das im Konzert selbst ausgespart blieb. Mit Rückerts Mein schöner Stern! aus dem Minnespiel und Theodor Körners An den Mond verflüssigten sich unterschwellige Strukturen, die während des erzählerisch betonten Liederabends festgefügt geblieben waren. Mit solcher emphatischen Erfahrung entließen uns Christian Gerhaher und Gerold Huber in die Sommernacht.

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Munich Opera Festival 2024: Christian Gerhaher sings Schumann

If you visit Tate Britain on an ordinary day, you’ll notice that John Everett Millais’ “Ophelia” attracts more viewers than works like William Blake’s “Newton” or Whistler’s “Symphony in White.” Millais’ “Ophelia” enjoyed cult status in the 1850s, which Robert Schumann captured in a poem by Titus Ullrich. This fame was not just British but European. Christian Gerhaher opened his concert at the Munich Prinzregententheater with Schumann’s “Ophelia-Lied.” The Munich baritone, often heard at the State Opera, was warmly and attentively received by the sold-out house.

Christian Gerhaher’s voice is distinguished by its versatility and ability to convey both intellectual and emotional depth. His voice combines warmth, darkness, and expressiveness, as demonstrated in his recently published book. Gerhaher’s Schumann concert included six volumes from the 19th century, emphasizing the narrative art. Poets like Justinus Kerner and Emanuel Geibel led through the inner landscapes of the 19th century, allowing Gerhaher a wide range of emotions, from lyrical to playful.

Christian Gerhaher’s voice is deep, warm, and expressive, with clear and understandable diction. He engages deeply with the works he interprets, bringing great musical and dramatic insight. In the concert, his interpretation recalled his role in Wozzeck at the Munich State Opera. Despite his natural voice, Gerhaher possesses perfect singing technique, giving him great flexibility. . Despite the heat in the hall, Gerhaher and Huber offered a compelling and analytical interpretation. Their encores, “My Beautiful Star!” by Rückert and “To the Moon” by Theodor Körner, dissolved the fixed structures of the song evening and released the audience into the summer night.

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