Von Stefan Pieper.
Auf frische musikalische Erfahrungen war beim sechsten Festival des Essener PENG-Kollektivs Verlass. Dass die Musik hier nicht einfach Selbstzweck ist, versteht sich von selbst.
„Es ist wichtig, Menschen wie euch in dieser Welt zu haben!“ entfuhr es der mexikanischen Sängerin und Bassistin Fuensanta – sie und ihre vielen Mitstreiterinnen konnten sich beim sechsten PENG-Festival auf ein enthusiastisches Publikum verlassen. So divers die künstlerischen Ansätze und Klangfarben, so sehr fokussierte sich im Essener Maschinenhaus alles auf die Magie des Augenblicks.
In Essen ist auch immer die gesellschaftspolitische Komponente Teil der Botschaft, was nicht zuletzt bei der Abschlussdiskussion zum Thema „Feminismus und Identität“ explizit herausgearbeitet wurde.
Welche Aktualität den Liedern und Balladen von Brecht, Weill und Eisler nach wie vor innewohnt, gab es im „Grünen Salon“ zu erfahren, jenem Bandprojekt um die Sängerin Christina Schamei. Die Neuarrangements dieser richtungsweisenden politischen Musikstücke zielen auf die emotionalen Tiefenschichten darin ab. Immer geht es dabei um den schmalen Grat zwischen Lebenshunger und existenzieller Verzweiflung, der dann entsteht, wenn sich zu viel kapitalistische Logik über alles Leben ausbreitet. Bemerkenswert dabei: Sängerin Christina Schamei, Johanna Klein (Saxofon), Simon Seeberger (Piano) und Florian Herzog (Kontrabass) gehen mit ihrem neuen Programm, was beim PENG-Festival debütierte, einen entscheidenden künstlerischen Schritt weiter: Es werden jetzt nicht mehr einfach die Songs eins zu eins interpretiert, sondern deren Emotion in frei wuchernde Klangassoziationen „übersetzt“, die eben auch ohne Worte mächtig in diese Welt hinein ziehen. Wie ein kraftvoller Theatermonolog wirkte ein Bass-Solo von Florian Herzog. Zerbrechlich bis in die letzte Nervenspitze beantwortete das extrem lyrische Saxofonspiel von Johanna Klein den eindringlichen Gesang von Christina Schamei.
Die PENG-Familie ist gut vernetzt
Das PENG-Kollektiv, von dem dieses Festival ausgeht, besteht aus sechs erfahrenen NRW-Musikerinnen, die alle an viele Entwicklungen im europäischen Jazz nah dran und entsprechend gut vernetzt sind – und zugleich in familiärem Miteinander an einem Strang ziehen, vor allem darauf kommt es an! So etwas beschert dem PENG Festival ausgesprochen viel kuratorisches Gewicht. Entsprechend war auf frische musikalische Erfahrungen im ganzen Verlauf des Festivals Verlass. Eine Überraschung aus der kreativen dänischen Szene markiert das Crush String Collective: Auch hier sind Musikerinnen gleichberechtigt im Kollektiv unterwegs und demonstrierten in der Maschinenhalle, wie so etwas im Idealfall klingt: Ausgangsmaterial sind die endlosen Möglichkeiten, mit welchen sich die Saiten eines Streichinstrumentes bearbeiten lassen. Aber so sehr die Musikerinnen auch alle möglichen Schwebungen und Obertonspektren ausloteten, so erhob sich dies souverän über jede neutönerische Abstraktion. Denn weil diese Musikerinnen so befreit gemeinsam improvisieren macht eine gemeinsame Schwingung viel mehr daraus.
Spiellust und Street Credibility
Neun Musikerinnen und Musiker aus acht Nationen weiteten in der Band um die mexikanische Sängerin und Bassistin Fuensanta den Blick dafür, wieviel unmittelbare Energie sich jenseits vorgefertigter Schablonen auftut und wie es im Idealfall zugehen kann, wenn „street credibility“ auf raffinierten Kunstfaktor, vor allem bei den komplexen polyphonen Vocal-Arrangements, prallt. Die Luftsprünge der mexikanischen Bandleaderin setzten sich im rhythmisch treibenden „Abgehfaktor“ der Band fort. Aus irgendwelchen Gründen heißt dieses Festival ja auch PENG-Festival – und allein deswegen musste dieses prominent besetzte (unter anderem mit dem israelischen Drummer Guy Salomon und der türkischen Sängerin Sanem Kalfa) vor Spiellust berstende Kollektiv einfach nach Essen eingeladen werden!
Lyrisch und besinnlich durfte es dann auch mal sein beim PENG-Festival. Feinster Singer-Songwriter-Pop vom Sängerinnen Trio aus Lydia Schiller, Rosa Kremp und Melissa Muther, die ihre Band „Morley“ nennen, eröffnete den zweiten Festivalabend. Und dann folgte die nächste Demonstration von tief empfundenem Konsens in befreiter improvisatorischer Klangrede: Pianistin Julia Kadel, Athina Kontou am Kontrabass und der amerikanische Schlagzeuger Devin Grey erzeugten in ihrem Spiel einen atmenden Klangzustand, der von tiefen Farb- und Stimmungswechseln lebte.
Musikalische Reisende
Unlängst hat die griechische Kontrabassistin Athina Kontou mit einem eigenen Album die vielen kulturellen Prägungen ihres Heimatlandes offen gelegt. Wie überfällig so etwas ist, um gerade dieses südosteuropäische Land musikalisch für Jazz im weitesten Sinne zu öffnen, zeigte beim PENG-Festival eine weitere engagierte Musikerin aus Griechenland: Evi Filippou, Perkussionistin und Vibrafonspielerin, zeigte ihrem Publikum, aber auch den Bandmitgliedern in ihrer Formation „Inevitable“, wo der Hammer hängt, wenn es um zupackende Präsenz auf der Livebühne geht. Viele unregelmäßige Metren kommen aus der griechischen Musik, aber auch aus Klezmer, serbischer Folklore, aus Freejazz, progressive Rock – und was es sonst noch alles gibt, um weiße Flecken auf musikalischen Landkarten möglichst effektiv mit neuen Farbtupfern zu beleben. Evi Filippou braucht gar nicht so viele Erklärungen für ihr Tun: Für sie markieren die kaleidoskopartigen Interaktionen ihrer Band einfach nur – oder nichts geringeres als – Postkarten aus dem Leben. Und das liegt schöpferischen Menschen, die sich als Reisende definieren, ja nun gut.
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