Von Carsten Schmidt
Es gibt kaum eine politische Persönlichkeit, die so intensiv, aber auch polarisierend in den letzten 20 Jahren die Talk-Shows belebte, öffentliche Debatten hoch eloquent geprägt oder Bundestagsreden erfrischend gemacht hat. Gregor Gysi hat sich seit der Wendezeit bereits in mehr als zwölf Büchern als Zeitzeuge geäußert und Anekdoten zum Besten gegeben. Nun gibt es eine von vielen interessierten Begleitern herbeigesehnte „Autobiographie“.
Auf den ersten Eindruck wirkt das fast 600-Seiten-Werk wie eine umfassende Bilanz. Gysi beschreibt seine Kindheit in Köpenick, in und um Berlin, und welche Verwandten drei oder vier Generationen vor ihm durch Zufälle an der Weltgeschichte beteiligt waren oder Ruhm erlangten, wie etwa seine aus Simbabwe stammende Tante Doris Lessing, die 2007 den Literaturnobelpreis erhielt. Gysi beschreibt, wie sein Elternhaus durch Besuche u.a. aus Frankreich, Großbritannien bereichert wurde und ihm früh zumindest den Eindruck einer weiten Welt vermittelte, auch wenn er nicht mehr reisen durfte als seine Klassenkameraden. Auch als sein Vater Klaus, der nach seiner Zeit als Kulturminister Botschafter der DDR in Italien, Vatikan und Malta war, durfte der Sohn ihn nicht besuchen.
Es wird deutlich, dass es günstige Zusammenkünfte waren, die Gysi zum Rechtsanwaltsberuf verhalfen, so etwa zwei Klassenkameraden, deren Väter höchste Ämter im Rechtsanwaltskollegium der DDR hatten. So können wir nachvollziehen, wie Gysi einer der jüngsten Anwälte in der DDR-Geschichte wurde und später selbst das Kollegium anführte. Wir begleiten ihn in die Vorwendezeit, wo er u.a. Robert Havemann und Rudolf Bahro verteidigte.
Wer allerdings schon einige Interviews und Reden von Gysi verfolgt hat – der merkt, dass der Eindruck, es handele sich hier um eine wenn nicht private, aber doch persönliche, tiefgründige Bilanz, eigentlich nicht stimmt. Es ist ein oftmals oberflächliches Abarbeiten von Themen und Jahren, Zack, weiter, zack, weiter – eben wie in der Haltung eines Menschen, der tausende Interviews in belebter Atmosphäre gegeben hat, und sicher ist, sowieso nur zwei Minuten Zeit für das jeweilige Thema zu haben.
Vielleicht ist es nicht erwartbar gewesen, dass ein Mensch wie Gysi in seiner Autobiographie Emotionen beschreibt, also neben abstrakten kühlen Betrachtungen vielleicht wenigstens einen Hauch davon schreibt, wann er einmal glücklich, enttäuscht, traurig oder ängstlich war. Das findet im Grunde nicht statt. Als seine Mutter ängstlich ist, er könne als neuer SED/PDS Chef einem Mordanschlag zum Opfer fallen, schreibt Gysi: „Mich hat das berührt“; zu den Anekdoten über seinen Vater schreibt er, sie seien „bemerkenswert“. Die andauernde gute Beziehung zu seinem Sohn George beschreibt er als „gegenseitige Zuneigung.“ Also – emotional ist anders.
Gut, das muss man akzeptieren. Auch, dass viele Anekdoten, die hier auftauchen, schon in anderen Büchern ziemlich wortgleich zu finden sind, kann man verschmerzen. Dass aber wirklich der oberflächliche Stil, der einem mündlichen Interview mit einem Journalisten entspricht, bis zum Ende nicht durchbrochen wird, ist doch etwas enttäuschend. Genau das – eine dezidierte Autobiographie – wäre die Möglichkeit gewesen, es mal anders zu machen, eben weil es schon so viele staubige Politiker-Biografien gibt, wie etwa die knochentrockenen Bände, die Helmut Kohl durch die Hand des Ghostwriters Heribert Schwan hervorgebracht hat. Kohl allerdings schrieb menschlich tatsächlich ein paar Grad wärmer als Gysi, so unwahrscheinlich das klingt.
Hier wäre die Chance gewesen, sich auch mal einem westlichen Publikum als Mensch zu zeigen. Das gelingt aber nicht, wenn man ferne DDR-Anekdoten mit Wörtern wie „selbstverständlich“ oder „natürlich“ spickt, denn das verrät nicht nur die mündliche Entstehungsart des Buches mit dem gleichaltrigen, ehemaligen „Junge Welt“ und „Neues Deutschland“-Redakteur Hans-Dieter Schütt. Es befördert das Verharren in der Blase, in der man nicht mehr erklärt – leider z. B. nicht einmal mit einer einzigen Zeile einem jüngeren Publikum, wer Robert Havemann und Rudolf Bahro oder Lothar de Maizière waren. Dann jedoch eine halbe Seite sentimental über den Trabi schwärmen – das gefällt der älteren ostdeutschen Hauptzielgruppe, klar, aber es ist auch irgendwie absehbar.
Es gibt freilich Rückblicke, die sich lohnen, in diesem Buch erforscht zu werden; sie sollen hier nicht entblättert werden.
Es bleibt von „Ein Leben ist zu wenig“ der Eindruck eines einsamen, nur ganz selten glücklichen Einzelkämpfers, der es „geschafft“ hat, 600 Seiten zu füllen, ohne in die Tiefe zu gehen.
Gregor Gysi
Ein Leben ist zu wenig
Aufbau Verlag, Berlin 2017
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