Von Ingobert Waltenberger.
Wasser überall Wasser, ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust. Ersehnte Ewigkeitsgefühle, sich eins fühlen innen und außen, wie das Romain Rolland 1927 in einem Brief an Sigmund Freud mit „sentiment océanique“ umschreibt. Diese Empfindung ist nach Rolland die Quelle aller religiösen Energien. Der japanische Pianist und Komponist Koki Nakano interessiert sich speziell für die Frage nach der Grenze zwischen Körpern und dem Rest der Welt. Wie wollen wir diese Schneise unserer Existenz mit dem Außen begreifen, ertasten, erfühlen? Bis wohin reicht unsere physische Existenz, aber auch unsere Individualität? Nakano sieht diese Grenzen variabel, wandelbar, uneindeutig. Wie in seinem Projekt „Pre-Choreographed“ ist es der Tanz, der hier die Fantasie beflügelt, die Projekte mit Sharon Eyal und Damien Jale, die Anregung, Stoff und Motivation gaben. Nakano schrieb, während er Tänzern dabei zusah, wie sie sich zu den von ihm gespielten Stücken bewegten. Die Oberfläche des Meeres, das Stampfen von Beinen im spritzenden Wasser, die Vorstellung, wieder in den Zustand eines Embryos im Mutterleib versetzt zu sein. Aber die Musik spricht auch von den Limits, diesen ozeanischen Gefühlen gerecht zu werden, von der Sehnsucht nach Harmonie innerhalb der eigenen Grenzen.
Aus dieser Grundkonstellation heraus hat Koki Nakano ein zwölfteiliges Programm destilliert, das er mit seinen Klängen assoziiert haben will: Neben den ozeanischen Gefühlen spricht er von der Mauser eines Tieres (bzw. Stimmbruch beim Burschen), einem Gedicht von Valerio Magrelli („Blicke“), einem Meeresarm, dem unbewussten Spiegeln von Gesten eines nahen Vis á Vis, von der dramatischen Veränderung der Wasseroberflächen (in Paris an der Seine beobachtet), der Ballettübung „port de bras“, von T-Zellen, Geburtskanälen und Epikureern in tiefer Verzweiflung.
Halten die Worte stand, in direkter Relation zu der sehr reduzierten und improvisatorisch fließenden Musik besehen? Da hören wir kleine Wellen und Wirbel, das Wasser rillt und raffelt, wölbt und zieht sich wieder zurück, beinahe unmerklich langsam aber stetig. Die Kontraste bleiben geringschwellig, dynamisch hält er sich zurück. Koki Nakano schreibt und spielt am Ende Wohlfühl-Musik mit Anspruch. Man mag sich dazu wie bei Port de Bras unendliche Drehungen und Wendungen begnadeter Körper vorstellen. Ein Ballett spielerischer Annäherung, Übungen in Kraft und Elastizität, scheinbar einfache Choreographien, die Balance und Harmonie zum Ziel haben.
Die Erfinder der Minimal Music wussten um die tranceartige, psychedelische Wirkung repetitiver Muster ihrer aus der Bildenden Kunst entlehnten Klangästhetik mit ihren Patterns und durch Tempowechsel ausgelösten Phasenverschiebungen. Auch Koki Nakano gelingen in gleichbleibenden Rhythmen, dezent und sparsam eingebauten elektronischen Überlagerungen und Geräuschen, am Ende zudem der Stimme von Alexander Cigana, solche selbstbezogenen Reize. Hätte Nakano nicht das sehr subjektive Programm dazu geschrieben – oder sind es eher Widmungen? – wäre sie, was sie wäre. Absolute Musik zum Meditieren oder zur Reflexion, die man mögen kann oder nicht, bei der man entspannen und das Hirn frei räumen kann, aber nicht muss. Mir wäre, alleine die Musik im Ohr, keine der Assoziationen eingefallen, wie sie Track für Track ausführlich beschrieben werden. Die Kontextualität von Körper und Umgebung, Musik und Tanz, der Rückbezug auf körperliche Prozesse, ist eine Möglichkeit der Wahrnehmung. Ich empfehle allen, die diese Musikrichtung schätzen, den eigenen Gedanken und Empfindungen zu vertrauen, und eine persönliche Geschichte zu erlauschen.
Oder aber Sie sehen sich die unglaublich faszinierenden Videos zu Track 2 „Mue“– offenbar in Versailles gedreht –
oder zu Track „Port de bras“ an.
Da können Sie wirklich ein Bad in Schönheit nehmen, den Sinnenrausch genießen oder einfach dem grandiosen Modern Dance samt dem elegant japanisch-französischen angehauchten Sound Nakanos folgen. Die Choreographien zu den Videos stammen von Tess Voelker, Mourad Bouayad, Marion Matin, Nicolas Huchard und Akram Khan.
Koko Nakano
Oceanic Feeling
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