Gedanken von Stephan Reimertz.
Die Franzosen haben ja die Frau erfunden; den Ruhm kann ihnen, ebenso wie im Falle des Camemberts, niemand mehr streitig machen. Aber auch wir Deutschen müssen uns nicht verstecken. Zwar haben wir im Falle des Käses und der Frau es nur zu Sekundärerfindungen gebracht, welche die Leistungen Frankreichs voraussetzen, unsere Beiträge sind aber so originell, dass wir uns damit vor der internationalen Öffentlichkeit sehen lassen können. Zunächst also Handkäs mit Musik: reifer Harzer Käse, der für einige Zeit in eine Marinade aus Essig, Öl, Kümmel, Salz und Pfeffer eingelegt und anschließend zum Apfelwein genossen wird (JA: das ist eine spezifisch Frankfurterische Erfindung, und NEIN: Goethe kannte ihn noch nicht), und zum Zweiten: die UNmondäne Frau. Dergleichen gibt es in anderen Ländern gar nicht. Darauf muss man erst einmal kommen. Diese Figur führt in anderen Ländern zu einer dermaßen großen Verblüffung, dass wir uns immer nur wundern können.
Hochgeschätzt im Ausland
Ähnlich ist es auf filmischer Ebene mit Sandra Hüller. Es ist mir vollkommen unerfindlich, was eigentlich das Besondere an ihr sein und worin, etwa in dem Film »Toni Erdmann«, ihre Schauspielleistung bestehen soll, außer dass sie die ganze Zeit herumsteht und weiter nichts macht, was man freilich auch können muss. Sandra Hüller sieht aus wie meine Cousine, und die ist Lateinlehrerin in Westdeutschland. Die UNmondäne Frau ist für Bewohner anderer Länder etwas so Unfassbares, dass die US-amerikanische National Society of Film Critics (NSFC) Frau Hüller in diesem Jahr ihren Preis für die Filme »Anatomie eines Falls« und »The Zone of Interest« verliehen hat. Warum fliegen die Amerikaner so stark auf den deutschen Durchschnittstyp? Oder ist das jetzt die neue Avantgarde? Als Sandra Hüller in der Hamlet-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum die Titelrolle spielte, hielt ich am TV-Bildschirm dreizehn Minuten durch. Dann rief ich eine Freundin an, amerikanische Filmschauspielerin in Berlin, und fragte sie, wie lange sie durchgehalten habe. »Sieben Minuten.«
Der Film von Regisseurin Justine Triet, im Original mit dem wenig originellen, Erinnerungen an Poe und Camus wachrufenden, Titel »Anatomie d’une chute«, ist in seinen Stärken und Schwächen typisches Produkt eines Landes, das nicht erst seit den psychologischen Kriminalfilmen von Claude Chabrol immer wieder glänzend inszenierte und gespielte Studien produziert, die indes regelmäßig auf der Handlungsebene und dem kriminalistischen Design zerfasern und sich in ihre Bestandteile auflösen. Der Streifen gerät konsequenterweise um zwanzig Prozent zu lang. Dabei hätte es nur ein wenig mehr Arbeit und Konstruktionsgeschick im Drehbuch erfordert, die klaustrophobische Geschichte von der ambitionierten Mutter, dem erfolglosen Vater und dem blinden Sohn, die in einem Alpenchalet hausen, auch auf der novellistischen wie der kriminalistischen Ebene sinnfällig erscheinen zu lassen und perfekt auszutarieren. Aber da fehlt den Filmleuten offenbar das Strukturempfinden. Es hat halt doch seinen tieferen Sinn, wenn man Jugendliche zum Klavierspielen anhält und sie peu à peu mit den leichteren, dann schwierigeren Beeethovensonaten bekanntmacht. Wer die Sonatenhauptsatzform früh verinnerlicht hat, dreht später keine so verblasenen Filme. Die Stärke von Sandra Hüller als Darstellerin ist wiederum, dass sie nichts »macht«, sondern die Darstellung natürlich strömen lässt, dann aber im Streit mit dem Ehemann in einer Art Verdichtung die Wut der Figur sehr stark zu spüren gibt.
Der Höß-liche Deutsche
Erinnern Sie sich daran, dass Götz George den KZ-Kommandanten bereits 1977 in dem Film »Aus einem deutschen Leben« gespielt hat? Ein respektabler Streifen, durchaus wert, nun anlässlich der Veröffentlichung des Films »The Zone of Interest« zum Vergleich wiedergesehen zu werden. In Westdeutschland wurden wir mit Nazifilmen, -büchern, -theaterstücken, -comics, -unterrichtseinheiten, -dokumentarfilmen, -musicals usw. von klein auf überfüttert. Auch heute noch wird dergleichen aus allen Rohren gefeuert. Hat die zweitausendjährige deutsche Geschichte nichts anderes zu bieten? Hinzu kommt, dass zu unseren eigenen Oberlehrern auch aus dem Ausland jeder zweite Schriftsteller, Regisseur und Historiker noch seinen Senf dazugeben muss. Man denke nur an Barrie Koskys Inszenierung der Meistersinger in Bayreuth: Historische Nachhilfe für Deutsche in Sachen deutsche Geschichte von einem Australier. Ich würde mich ja kaum entblöden, als Deutscher an der Oper von Sidney eine australische Oper voller Belehrungen über die australische Geschichte zu inszenieren. Aber gut: Wir Deutschen haben uns das eingebrockt, nun müssen wir auch den Nachhilfeunterricht ertragen.
Horror in den Realitätsspalten des Alltags
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der neue Film »The Zone of Interest« fällt aufgrund seiner außergewöhnlichen Qualität aus dem gewohnten Reeducation-Schema. Der Londoner Filmregisseur Jonathan Glazer (Jg. 1965) mag seine persönlichen Motive für dieses Projekt gehabt haben. Das Alltagsleben von KZ-Kommandant Rudolf Höß und seiner Familie in ihrem Wohnhaus neben dem KZ Auschwitz sind mit niemals wankender Disziplin dargestellt. Der Film besticht durch das, was er nicht tut. Verbannt ist alles Plakative, Spektakuläre, Billige, Effekthaschende. Der Horror entsteht aus subtilen Alltagsbildern. Sandra Hüller gibt die Frau des Kommandanten. Hedwig Höß war auch so eine Unmondäne. Wir haben diese Nazifrauen noch gekannt. Hüller und die anderen Darsteller haben den obszön-harmlosen Ton dieser Generation dermaßen genau getroffen, dass ich bei der Vorführung des Films an mich halten musste. Hüller hat das Obszöne im Unmondänen am Beispiel einer Nazifrau in ebenso verblüffendem wie erschreckendem Ebenbild auferstehen lassen. Eher als von einer schauspielerischen Darstellung hat es etwas von einer Wiedergeburt. Diese Ilses, Helgas und Hedwigs sind die hausbackenen Urmütter der heutigen reizarmen Heikes, Brittas und Sandras. Gemeinsam ist ihnen die Abweisung westlicher Zivilisation. Damals wie heute gilt: Die deutsche Frau raucht nicht! Die deutsche Frau schminkt sich nicht!
Epochen und Ebenen der Banalität
Die Unfähigkeit zu trauern führt zur zwanghaften Wiederholung des Verdrängten. Was nicht durchgearbeitet ist, muss gnadenlos reproduziert werden. In einer solchen Endlosschleife befinden wir uns mit der medialen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die hyperinszenierten Fernsehfilmchen von Guido Knopp und Sebastian Dehnhardt schneiden die deutsche Geschichte in Häppchen zur Abendunterhaltung vor, und in der Belletristik verhält es sich kaum anders. Da wärmen sich Leute am heißen Eisen. Wenn ein deutscher Roman international verkauft werden soll, müssen Nazis rein. Aussichtsreicher sind dokumentarische Filmessays, die ihrerseits Kunstwerke sind, wie Hans-Jürgen Syberbergs »Hitler – Ein Film aus Deutschland« (1977), der erwähnte Höß-Film mit Götz George oder Spielbergs »Schindler’s List«, weil hier eine dialektische Verarbeitung versucht wird. In diese Kategorie gehört auch der neuen Film von Jonathan Glazer. Dem Theaterhaften und Künstlichen der Inszenierung droht allenfalls die Gefahr des Lehrhaften. Die Idee, »die Banalität des Bösen« zu inszenieren, kommt sehr ostentativ daher. Es ist dann aber der Kunstcharakter des Ganzen, der auch das Dokumentarische rettet. Wer übrigens Hannah Arendts Reportage »Eichmann in Jerusalem« (1963) liest, um zu erfahren, was die Autorin mit jener im Untertitel genannten, sprichwörtlich gewordenen »Banalität des Bösen« überhaupt meint – die Banalität des Bösen im Kontrast zu anderen Eigenschaften des Bösen, oder aber die Banalität des Bösen im Gegensatz zu anderen Formen der Banalität – der wird von Arendt ebenso im Unklaren gelassen wie von ihren Interpreten.
Die Allgemeingültigkeit des Familienalltags bei den Hößens
Ich weiß nicht, ob Regisseur Jonathan Glazer oder irgendjemand sonst im Produktionsteam daran gedacht hat, dass alle deutschen Einfamilienhäuser in der Konsequenz solche Hößhöhlen gewesen sind, von den Schreien der Gefolterten und Ermordeten kaum durch eine Mauer getrennt. Ich weiß auch nicht, ob Glatzer oder der englische Romancier Martin Amis, der den zugrundeliegenden Roman geschrieben hat, in den Nazideutschen auch bereits die Deutschen der Nachkriegszeit darstellen wollten, als die Epoche des großen Schweigens begann, aus der sich einzelne Stimmen wie jenen von Max Picard, Eugen Kogon und Alexander Mitscherlich so strahlend wie die einsame Trompete im Finale des »Fidelio« heraushoben. Das Antlitz dieser vereinzelten mutigen Aufklärer an der Seite von unerschrockenen Juristen wie Fritz Bauer und den Anklägern der Frankfurter Prozesse konnten auch von den Maulhelden der Achtundsechziger-Generation nicht verdunkelt werden, die allen Ernstes behaupteten, erst sie hätten mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus begonnen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist auch die Frage, wie sich die Banalität des Bösen in »The Zone of Interest« zur Alltäglichkeit des von der Schauspielerin Sandra Hüller vorzugsweise verkörperten Typus verhält. Vielleicht hat Glazer, und dann wäre er tatsächlich ein genialer Regisseur, über sein Thema hinaus auch einen Film über das Zombiehafte der Bundesrepublik gedreht. Wer in Westdeutschland aufgewachsen ist, hat das Unheimliche und Abstoßende erlebt, das er nicht auf den Punkt bringen konnte und dem erst Philipp Felsch und Frank Witzel in ihrem bemerkenswerten Buch »BRD Noir« (2016) auf die Spur gekommen sind
Die »Neue Frau« auf flachen Schuhen
Gerade berichtet Philipp Felsch in seiner frisch erschienenen Habermas-Biographie, wie er den Philosophen zu Hause in Starnberg in Turnschuhen (»Sneakers«) angetroffen habe. Der tote Winkel, der sich hier auftut, besteht darin, dass niemand hier stutzt und die Frage aufwirft, ob nicht der Habitus des Habermas seine Philosophie widerlegt. Ich kann mir jedenfalls eine Demokratie auf Turnschuhen nicht vorstellen. Joschka Fischer, der seinen Ministerschwur vor dem hessischen Landtag Mitte der achtziger Jahre in Turnschuhen leistete, bekam davon selbst Bauchschmerzen und schrieb in sein Tagebuch: »Nie wieder Turnschuhe!« Da hat jemand politischen Instinkt bewiesen. Was am Phänomen Hüller irritiert: Die Frau zum Pferdestehlen ersetzt die Reitkameradin. Die flachen Schuhe der Neuen Frau dichten sie ab gegen die phlegräischen Felder von Jahrtausenden der Kultur und Zivilisation unter ihren Füßen. Das ist jetzt die voraussetzungslose Frau, die ideale Konsumgefährtin. Die unerotische Frau ist eine Erfindung des Protestantismus, der sich hier freilich auf Mt 19, 12 berufen kann. Ich zitiere nach der Lutherbibel: »Denn es gibt Verschnittene [Die Zürcher Bibel übersetzt: »Eunuchen«], die von Geburt an so sind; und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. Wer es fassen kann, der fasse es!« Es ist deutlich, dass sich Jesus hier auf Männer bezieht, dennoch kann man die entscheidende Wendung um des Himmelreiches willen auch auf Frauen beziehen. Die unerotische Frau bezieht sich also nicht auf einen Reproduktionsprozess, sondern ist auf ein metaphysisches Ziel hin gerichtet. (Wer es fassen kann, der fasse es!) Im Alltag ist sie die Kameradin des Mannes. Daher kommt der Typus der »praktischen« Frau. Im ganzen romanischen, und natürlich auch im orthodoxen Bereich ist dieser Typus unvorstellbar.
Kuriose Detailfehler
Zwar fürchtet man nach dem ersten Drittel des Films, der Regisseur Jonathan Glazer habe sein Pulver verschossen und das ganze laufe auf einen halbdokumentarischen Lehrfilm für die Oberstufe hinaus, wie sie bis zum Überdruss auf uns losgelassen wurden. Dann aber fallen dem Regisseur doch noch subtil-schmerzliche Bilder für das Grauen ein, das sich nur hinter den Mauern verbirgt. Zwei kuriose Fehler betreffen nur die deutsche Synchronisation. Sie sind aber seltsam, da hier ja Deutsche mitgewirkt haben. In der Mitte des Films heißt es bei einer Lautsprecheransage »Kommandeur« statt »Kommandant« und, allen Ernstes: »Bund Deutscher Mädels«.
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Lieber Stephan: Deine „Gedanken von Stephan Reimertz“ haben mich geplättet … Deinen Text werde ich noch mehrmals lesen …. Bei mir hat der Film vor allem die Frage ausgelöst, ob ich nicht vergleichbar den Hößs lebe …. Der überwältigende Reichtum und die Angebots-Vielfalt von Nahrungsmitteln von REWE, PENNY, LIDL, ALDI und …, z. B.,, gilt auch für andere Branchen …! – und den Mitteilungen in den Nacht- und Morgenstunden im DLF, wo überall in der Welt wie viele Kinder verhungern, weil es keine Nahrung gibt …