Rezension von Ingobert Waltenberger.
„Schmerz schärfet den Verstand und stärket das Gemüth.“ Franz Schubert
Ausufernde Kammermusik, ein hochfliegender Versuch vor der letztgültigen Symphonie, Identitätssuche im Fahrwasser von Beethovens Septett für Klarinette, Fagott, Horn, Violine, Viola, Cello und Kontrabass? Alles das und doch ein ganz eigenständiger Handstreich wurde dieses um eine Violine erweiterte Werk, das der begabte Amateurklarinettist Graf Ferdinand Troyer bei Schubert in Auftrag gab. Wie die Wechselfälle des Lebens den feinfühligen Wiener Komponisten in Form von Krankheit und Depression heimsuchen, so stellt Schubert 1824 mit seinem rasch notierten einstündigen Oktett dieser biographischen Düsternis ein überwiegend helles Divertimento entgegen. In einem Brief vom März 1824 an den Maler-Freund Leopold Kupelwieser sprach er von mehreren Streichquartetten und diesem Oktett, mit dem ich „mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen will.“
Das wunderbar wienerisch beherzte sechssätzige Monumentalwerk entpuppt sich im neuen Album als Experimentalbühne kammermusikalisch konzertierenden Wettstreits. Die Hauptakteure sind die erste Violine (grandios Amaury Coetaux), die Klarinette (ausdrucksstark und dennoch stets unvergleichlich nobel im Klang Sabine Meyer) sowie das Horn (virtuos glänzend Bruno Schneider).
Nicht nur eine Vielfalt an klanglichen Valeurs lotet Schubert als Erbe der klassischen Epoche auf das Subtilste aus, er blickt mit seinen Vorerkundungen hochromantischer Harmonien bis weit in die Zukunft. Wir stimmen mit Melissa Khong überein, wenn sie konstatiert, dass „Charakter und Form sich auf unvorhersehbare Weise ändern vom Scherz bis zur Vorahnung in den Variationen (Anm.: nach einem Thema aus Schuberts Oper „Die Freunde von Salamanca“) und vom Surrealen bis hin zum Spektakulären im Finale, dessen phantasievolle von dramatischen Tremolos angedeutete Einleitung Wagners Opern schon vorwegnimmt.“
Auch die gegensätzlichen Stimmungen, die atmosphärisch im Seelenwind sich drehenden Wetterfahnen in allen Farben, samt deren kunstvoll modellierten Übergängen sind erstaunlich. Da findet sich das Äußerste an unbeschwerter Leichtigkeit im Più allegro des ersten Satzes, das feine, dicht verwobene Zwiegespräch von Violine und Klarinette im himmlisch langen Adagio, das übermütige Scherzo ganz im Geiste von Beethovens Vierter bis hin zum ausgelassen emotionalen, jedes kammermusikalische Korsett sprengende Allegro molto im letzten Satz.
Das Quatuor Modigliani und sein Freundeskleeblatt Sabine Meyer, Bruno Schneider, Dag Jensen (Fagott) und Knut Erik Sundquist (Kontrabass) sind einer spezifisch wienerischen Eleganz verpflichtet. Sie erhöhen den alle Bürden hinter sich lassenden trunken seligen Augenblick ebenso zu den Sternen, wie sie den das Herz verdunkelnden Wolken in grafischer Klarheit Kontur geben oder das Schicksal mit gespannten Rhythmen an das Tor klopfen lassen.
Die Balance zwischen der Schönheit des freudig federnden Tons, der darunter schwelenden Melancholie und der ins Kosmische gesteigerten romantischen Sehnsucht darf einem Zauberkunststück gleich bewundert werden. Wir erleben ein gauklerhaftes Maskenspiel voller intimer Andeutungen, aber auch die ins sublim künstlerisch geweitete Camouflage banaler Daeinszwänge. So kulminiert das zunehmend in existenzielle Gefilde bohrende Spiel der Musiker wahrlich in einem triumphalen Rausch. Die Acht schreiben damit ein nachdrückliches Manifest (nach)schöpferischer Wahrheit. Die große C-Dur Symphonie lässt vom in Dämmerlicht getauchten Berggipfel herab grüßen.
Die erste öffentliche Aufführung fand am 16. April 1827 durch das Schuppanzigh-Quartett während eines Konzerts zu Ehren des kurz zuvor verstorbenen Ludwig van Beethoven statt. Die nun publizierte, sehr empfehlenswert, ja luzide Aufnahme entstand im September 2018 im August Everding Saal in Grünwald.
Schubert: Octet
Quatuor Modigliani
Sabine Meyer (Klarinette), Bruno Schneider (Horn), Dag Jensen (Fagott), Knut Erik Sundquist (Kontrabass)
Mirare (Harmonia Mundi), 2020
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