Von Stefan Pieper.
Die Skala von tief empfindsamer Melancholie bis hin zum wagemutigen Experiment ist bei Tamara Lukasheva, die in diesem Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis im Fach Komposition ausgezeichnet wurde – vor allem live – in jedem Moment nach oben hin offen. So etwas bewies ein Live-Abend, an dem die aus der Ukraine stammende, heute in Köln lebende Pianistin ihr fabelhaftes neuen Solo-Album „Gleichung“ einem empfänglichen Publikum nahe brachte.
Dazu passt ein ganz und gar „romantisches“ Ambiente an diesem Abend, nämlich die Wasserburg Lüttinghof, gelegen im nördlichen Ruhrgebiet, wo sich Industrielandschaft und alte ländliche Umgebung immer wieder neu, immer wieder anders berühren, Die Konzertreihe Fine Art Jazz hat hier bald zehn Jahren viele authentische Orte für das improvisierte Konzertleben erschlossen.
„Ich finde es total spannend, was es gibt in der Welt“ – mehr als diesen Satz braucht Tamara Lukasheva nicht, um auf den Punkt zu bringen, was sie will und tut. Eine leichtfüßige Vokal-Piano-Improvisation zum Aufwärmen macht auf Anhieb deutlich, was die Künstlerin auszeichnet: Virtuosen Stimmeinsatz mit faszinierend vielseitigem Klavierspiel zusammenzubringen – oft so, als würden hier zwei Musiker und eben nicht nur eine Person agieren. Und schon geht es ans literarisch Eingemachte im wärmenden Wohnzimmer-Flair im Saal auf der Wasserburg: Clemens Brentanos zärtlich-trauriges Wiegenlied „Singet Leise“, Balladen von Novalis, Dichtungen von Theodor Fontane und Reiner Maria Rilke nähren die lyrisch-musikalische Inszenierung in vielen Facetten. Am Anfang standen Worte, die sie verzaubert haben, beschreibt die gebürtige Ukrainerin in ihren ausgiebigen Anmoderationen den kreativen Prozess. Töne und Harmonien als unmittelbare Resultate einer tiefen Einfühlung.
Zu Rilkes Gedicht „Ich kreise um Gott“ durchmisst ihre Stimme kühne Intervalle wie Luftsprünge, bevor sich in rasantem Unisono -oder auch dem Gegenteil davon – Stimme und Klavier miteinander synchronisieren. „Ich mag Spiritualität“ bringt Tamara Lukasheva ihre Motivation auf den Punkt und erläutert ihrem Publikum anschaulich die eigene Kompositionsmethode. Auch in einer Hommage an Hildegard von Bingen geraten mittelalterliche Dichtkunst und eine subjektive musikalische Gegenwart auf gemeinsame Augenhöhe: „Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen überflutet die Liebe das All“ heißt es – und schon folgt die musikalische Einlösung dieser Aussage, wenn eine Kette aus dissonanten Intervallen eine gesungene modale Tonskala hervorbringt. Kraftvolle Metaphern aus Clara Müller-Jahnkes Dichtung „Der Schatten“ bringt eine bittersüß schwebende Vokalise in Fluss, bis schließlich alles in einen fast spätromantischen pianistischen Klangozean mündet.
Tamara Lukashevas gesangliches und pianistisches Potenzial ist immens. Sie hat in Odessa Operngesang und klassisches Piano am Konversatorium studiert. Das will etwas heißen. Wenn sie in ihre typischen Vokalisen einsteigt, klingt dies wie eine indische, vokale Rhythmisierungstechnik und weniger wie angloamerikanischer Scatgesang. Manche Momente dieser instrumental-vokalen Personalunion erinnern in ihrer Färbung auch an den Mugham-Stil von Azizah Mustafa Zadeh. Und ja: Sie bestätigt hinterher im Gespräch, dass sie sich von der legendären Aserbaidschanerin auch schon inspirieren ließ.
Bei Text-Lyrik geht es oft gar nicht darum, einen Bedeutungszusammenhang „kopfmäßig“ zu erfassen. Der gymnasiale Deutschunterricht treibt vielen jungen Menschen mit solch vergeblichen Anstrengungen oft lebenslang die Leidenschaft für Literatur aus. Tamara Lukasheva macht auf der Wasserburg Lüttinghoff vor, wie es gehen kann, um wieder die unaussprechliche Magie zwischen den Worten fühlen zu können. Letztlich bleibt, wie es Theodor Fontane sagt, „das Dunkel, das Rätsel“ und „die Frage“ übrig. Die Antwort könne nur „wie Meeresrauschen“ klingen. Oder eben wie Tamara Lukasheva.
Tamara Lukasheva
Gleichung
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