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Statt Kino: Leonardo Vinci „Alessandro nell’Indie“

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Zaubre mich ins Land der Illusion: Leonardo Vincis „Alessandro nell’Indie“ als hochemotionale, mystische Bollywood-Seelen-Show. Von Barbara Röder.

Im Festspielhaus Bayreuth auf dem Grünen Hügel verklingen die letzten Töne. Die Lichter werden gelöscht. Unten in der Stadt nehmen internationale Barockspezialisten, Orchester und Sänger des weltweit gepriesenen Bayreuth Baroque Festivals Quartier. Sie proben neben vielen anderen Highlights zwei Welturaufführungen: Leonardo Vincis „Alessandro nell’Indie“ und Giovanni Bononcinis „Griselda“.  Eindrucksvoll werden sie während den musikalisch spannenden Reisen ins aufklärerische Barockzeitalter in Bayreuth aus der Taufe gehoben werden.

Eine Woche später liegt Nebel über der Stadt. Regen prasselt auf das Kopfsteinpflaster vor dem zum Weltkulturerbe gekrönten Markgräflichen Opernhaus. Auf dessen Bühne träumt ein König: George IV., Regent von England im 19. Jahrhundert. Ein ausschweifendes Leben zelebrierend, vorwiegend für Kunst und Mode interessierend, hat er sich auf seinem samtroten, plüschigen Diwan niedergelassen. Wir schauen zu, sind gebannt, verzückt und erwartungsvoll! Es ist so weit:

Der Vorhang öffnet sich zu Leonardo Vincis Dramma per musica „Alessandro nell’Indie“ (Alexander in Indien), uraufgeführt zur Karnevalssaison in Rom 1729, laut Librettobuch von Dichter Pietro Metastasio. Dieser und sein Werk waren äußerst beliebt. Fast 80 Mal wurde das Eifersuchtsdrama „Alessandro nell’Indie“, das auf dem Portfolio eines Eroberungsfeldzuges gehievt wurde, vertont. Hasse, Graun, Gluck und Händel nahmen sich des Stoffes um den Feldherrn Alexander des Großen an. Sein edler Großmut und seine milde Toleranz adeln ihn und seinen Charakter im Textbuch. Er ist ein außergewöhnlicher Herrscher, der Gnade walten lässt. Alexanders Begegnung mit dem indischen König Poro, diverse Liebesverstrickungen, Verwechselungsspiele und spielerisches Schlachtengeplänkel waren damals das, worauf das Spektakel süchtige Opernpublikum begierig lauerte. Aktueller Klatsch und Tratsch wurden ebenso ins Bühnengeschehen gepackt wie subtil süffisante Befindlichkeiten herrschender Zeitgenossen. Um die Zensur und die strengen Regeln im damaligen Italien zu umgehen, wurden die Sujets um Macht, Liebe, Betrug und etliche Frivolitäten in ferne, exotische Länder verfrachtet. Metastasio war darin der meisterliche Librettist. Er verstand es, den realen Indienfeldzug Alexander des Großen von 326 v. Chr. in ein Dauerbrenner-Libretto zu verwandeln. „Alessandro nell’Indie“ wurde von Leonardo Vinci erstmals in Töne gesetzt. Es war für den populären Süditaliener Vinci, den furios erfolgreichen Vertreter der Neapolitanischen Schule ein grandioser, musikdramatischer Sieg, der gesellschaftlich und in der Musikerzunft hohe Wellen schlug.

Indische Glückseligkeiten

Regisseur Max Emanuel Cencic zaubert uns zusammen mit seinem Bühnenbildkünstler Domenico Franchi in einen illustren königlichen Pavillon im englischen Seebad Brighton. Edelmann George IV.  wird sich gleich in Alexander den Großen verwandeln und auf der kleinen Bühne des in sündiges Rot getauchten Ambiente dessen Liebesabenteuer nachspielen. Ein Theater im englischen Jahrmarktstheater hat alles, was das fantasiehungrige Herz, die blühende Imago begehrt. Das geht natürlich nicht ohne zwei überkandidelte Schauspieler, die wie aus einem satirischen Hogarth Gemälde entsprungen, die Indien-Show mit Witz und Charme ankündigen, ja anheizen. Die englischen Snobs (Nate Harter, Connor Power) buhlen um das Ohr und das Augenmerk des Publikums. Es scheint, als haben sich Franchi und der rührige Kostümbildner Giuseppe Palella von einigen englischen Historiendramen und Serien inspiriert lassen. Von „Beecham House“, das 1795 im indischen Mogulreich spielt oder von Jane Austen Adaptionen wie etwa die Serie „Sanditon“. Es ist herrlich, so viele gut durchdachte Details zu entdecken. Denn goldene Elefanten, Kamele allesamt auf Rädern und das mächtige Fruchtbarkeitssymbol, ein güldener Penis, machen heftig schmunzeln.

Der Erlass und das Verbot von Clemens XI.  besagen„, dass keine Weibsperson bei hoher Strafe Musik aus Vorsatz erlernen solle“. Auf den Bühnen Roms waren im 18. Jahrhundert Frauen schlicht weg ein No Go! Sie waren verboten. Cencic macht sich dies zunutze und besitzt nach dem Vorbild der Uraufführung des Alessandro nell’Indie sämtliche Partien mit Männern. Das hat was, macht allen Freude, die die musikalisch szenische, einzigartige Travestie-Glücks-Show im markgräflichen Prachtbau erleben. Im indischen Sehnsuchtsland tummeln sich tanzend und singend, also allesamt Männer.

In Vincis Welterstaufführung seit 1740 sind die besten Counter unserer Zeit versammelt. Cencic entbrennt ein Feuerwerk der illustren, exotischen Sehnsüchte in uns. Beeindruckend – was soll über diesen Ausnahmeinterpreten noch alles geschrieben werden – beschenkt Franco Fagioli als emotional leicht entzündbarer Poro seine verzückte Fangemeinde. Abermals mit schwindelerregenden Bravourarien trumpft er ebenso auf wie mit der innigen Arie „ Wenn zwei reizende Augen solche Macht ausüben können, so ist die eifersüchtige Wut einer unglücklichen Seele durchaus Tränen wert“. Umgarnt und umschmeichelt wird er dabei mit dem herben, süßen Gesang der Violine von Martyna Pastuszka. Die Geigerin betritt dazu die Bühne, um mit Fagioli gurrend surrend ins Duett einzustimmen. Als Leiterin und Dirigentin überzeugt sie zusammen mit ihrem {oh!} Orkiestra vollends. Fagioli schnurrt höhen- und koloraturverliebt mit bravouröser Geschmeidigkeit so manche Arie inklusive Rezitativ herunter. Dieser Sängerdarsteller ist eine Jahrhunderterscheinung!

Mit heißblütiger Verve und honigheller Stimme glänzt der Sopranist Bruno De Sá als die in Liebesdingen gewandte Cleofide. Sein reiner, hochsensibler Sopran triumphiert auch als De Sá die Hommage an Mozart anstimmt. Aus seiner Gurgel schnellt die bekannte Arie der Königin der Nacht und Fagioli hebt zeitgleich zu Rossinis Arie aus dem Barbier von Sevilla an. Es ist ein kleiner, musikalischer Geck, der gefällt! Von gleicher stimmlicher Raffinesse und schauspielerischem Talent ist der Sopranist Maayan Licht ausgestattet. Er singt den Regenten Alessandro mit einschmeichelnder Stimme, die in kühles Timbre eingebettet, Überschwang zelebriert.

Jake Arditti schwingt als Erissena (Poros Schwester) sogar die Hüften und zum Bauchtanz an. Arditti präsentiert die klug agierende Erissena. Seine matte, dunkelgefärbte Stimme passt gut zur hervorragenden Personage der Oper. Der Altist Nicholas Tamagna zeigt als Timagene ausdrucksvoll gestalterische Qualität. Seine Höhen klingen ausgewogen, die samtige Tiefe farbintensiv. Der einzige Tenor ist Poros Freund Gandarte. Stefan Sbonnik lässt mit ebenso exquisitem Können tönend seine Partie leuchten und strahlen. Cencics fulminante Regie des „Alessandro nell’Indie“ ist ein Kunstwerk der Nachreife. Unser musikalisch-poetisches Nachreifen beginnt bereits, wenn die Lichter gelöscht sind in jenem kurzen Augenblick vor dem stürmisch anhebenden Applaus. Das hellauf begeisterte Publikum spendet Standing Ovations und hofft auf eine genussvolle Reprise in 2023.

Auf ARTE Concert ist die komplette Produktion des „Alessandro nell’Indie“ bis September 2023 hier nacherlebbar.

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