Das Südtirol Jazzfestival Alto Adige erfand sich wieder einmal neu in diesem Jahr. Von Stefan Pieper.
Ein Ort, der einladender nicht sein könnte nebst einer spektakulären Umgebung – dazu zahlreiche Begegnungen und Konzerterlebnisse, die nur hier so, durch den Zusammenklang dieser Faktoren, möglich sind – das alles machte auch den Besuch des Südtirol Jazzfestivals Alto Adige 2024 wieder zu einem Höhepunkt im Jahr.
Das neue Leitungsteam ist seit letztem Jahr engagiert dabei, das Festival mit seiner durch Klaus Widmann langjährig aufgebauten DNA kreativ in die Zukunft zu denken. Bei der Programmplanung ziehen Max von Pretz, Roberto Tubaro und Stefan Festini Cucco neue Quellen heran und setzen noch stärker auf ein international vernetztes Nehmen und Geben innerhalb einer dynamischen jungen Musikszene. Mehr Gewicht bekommen überregionale Kooperationen mit anderen Festivals (zum Beispiel Leipzig), ebenso mit Förderinstitutionen wie dem NICA-Artists-Netzwerk vom Land NRW. All dies tut einer gemeinsamen Sache auf jeden Fall gut, nämlich mit einer vereinigten (Musik-)Kultur aller Länder den ökonomischen und gesellschaftlichen Widerständen wirkungsvoll zu trotzen.
Das Unerwartete ist dabei gewollt und entsteht vor allem an den wechselnden „Nebenlocations“ des Festivals: Kurz vor der Geisterstunde drang eine überschaubare Gruppe verrückter Menschen in Bozens riesige, aber zu diesem Zeitpunkt ansonsten menschenleere Messehalle ein, denn jetzt stand hier etwas anderes auf dem Plan als die sonst üblichen Großevents der Wirtschaft oder der Unterhaltungskultur. Skylla heißt die Band der Südtiroler, heute in Großbritannien lebende Bassistin Ruth Goller – und die pflegt eine ganz und gar eigenwillige Verbindung von E-Bass, Schlagzeug und gleich drei weiblichen Gesangsstimmen. Ritualhaft kreiste deren Sphärengesang, von repetitiven E-Bass-Mustern gelenkt, um ein Zentrum auf einer höheren Daseinsebene. Nach Ruth Gollers Bekunden drücken die Stücke Skyllas ihren eigenen Stream of Consciousness aus.
Frei improvisiertes Action-Kino
Was improvisierende Musikerinnen und Musiker aus dem Moment schöpfen können, stellte ein Filmkonzert in Kooperation mit dem Bozener Filmclub unter Beweis. Saxophonist Daniel Erdmann, die impulsive Schlagzeugerin Francesca Remigi und Olga Reznichenko an ihrem Umhänge-Keyboard improvisierten völlig aus dem Stegreif heraus zum bildgewaltigen Action-Stummfilm „Mr Radio“ aus dem Jahr 1924, in dem schon vor 100 Jahren alle Register eines opulenten Action-Kinos gezogen wurden. Die Rollenverteilung für die musikalische Interaktion des Trios ergab sich wie von selbst: Daniel Erdmann trieb in seinem Spiel die Emotionen fast schon leitmotivisch voran. Olga Reznichenko übersetzte die Bilderflut des Films in eine schillernde Klangfarbenvielfalt, während Francesca Remigi dafür sorgte, dass jeder Kubikzentimeter des Raumes mit der ganzen dramatischen Energie der aberwitzigen Filmhandlung angefüllt war.
Viel leiser, aber mit kaum weniger kreativer Energie ging es bei einem Morgenkonzert in der zu der großen Schar Unterstützender gehörenden Spirituosen-Brennerei Roner zu. Die amerikanische Theremin-Spielerin Pamela Stickney und der Gitarrist Peter Rom schufen hier nichts geringeres als ein kammermusikalisches Kleinod. Als beide schließlich in einem Stück von Olivier Messiaen „ankamen“, verkörperte dies so viel Überzeugungskraft, als hätte Messiaen genau dieses Duo mit diesem wundersamen elektrischen Instrument bei der Komposition seines Stückes im Sinne gehabt – welches aber im Original eine Vokalkomposition ist.
Das Sich-Entführen-Lassen an besondere Orte gestaltet sich manchmal unvorhersehbar, vor allem, wenn das Bergwetter nicht mitspielt. So musste das Trio Haezz sein geplantes Freiluftkonzert hoch oben auf den Almwiesen beim Rittnerhorn in eine Holzhütte verlegen. Aber das behagliche Setting, bei dem das Publikum auf Strohballen saß, gab einmal mehr der Verwandlungskunst dieses Festivals Nahrung: Plötzlich war aus der Scheune ein alpiner, swingender Jazzclub geworden, in dem auch mal eine Hommage an Thelonious Monk erlaubt war – manches ist einfach so zeitlos, dass es sich auch in die vor Spielwitz und Fantasie sprühende Gegenwart dieses Trios locker einfügte.
Fürs Publikum werden rote Teppiche ausgerollt
Das Südtirol-Festival ist kein Massenevent und will es auch nicht sein. Dennoch rollt das Festival auch immer rote Teppiche fürs Publikum aus, um einladenden Wohlklang an schöne, stilvolle Locations zu bringen. Die lauschige, große Parkanlage des ehrwürdigen Grandhotels Laurin mit Pool und unter Bäumen, begleitet von Vogelgezwitscher und Glockenläuten, war dann auch das vierte „imaginäre Bandmitglied“ für das zu kühlen Drinks leichtfüßig in hellen Farben freundlich jazzende Trio um den Münchener Pianisten Nils Kugelmann.
Das „Batzenhäusel“ ist das Festivallokal mitten in der Bozener Altstadt gelegen und de facto eine Brauerei mit einem riesigen Draußen-Gastro-Bereich. Eine Etage tiefer, im Sudwerk, waltet im Studiobühnen-Format das wohl konzentrierteste musikalische „Versuchslabor“ des Festivals. Hier wurde dann auch die mehrstündige, frei improvisierte, aber letztlich aus einem durchgängigen Bass-Ostinato nebst allerhand, auch psychedelisch wirkender Improvisationen die Performance „Kabarila“ fortgesetzt, die von dem Ethnologen Stefan Cucco Festini ausgedacht und vom Bassisten Lukas Kranzelbinder realisiert worden war – mit dem Ziel, auf der Basis archaischer Trance-Rituale und von Elementen aus der Rave-Kultur konventionelle Zeit- und damit Erlebnisformate größer und freier zu machen. Das Südtirol Jazzfestival Alto Adige will sein Bestes geben, damit Bozen und die ganze Region ihrem neuen Status als UNESCO Creative City of Music Ehre machen. Für Bozen bedeutet diese Auszeichnung eine Anerkennung der lokalen Musikkultur, was nach Meinung von Festivalleiter Stefan Festini Cucco einen guten Nährboden für weitere neue Vernetzungen und noch mehr internationale Ausstrahlung liefert: „So etwas bietet eine gute Chance, dass Stadtverwaltung und Kulturveranstalter noch enger zusammenzuarbeiten und weitere gemeinsame Projekte initiieren.“ Das Festival reiht sich damit in einen Kreis weiterer beachtlicher kultureller Aushängeschilder von Südtirols Landeshauptstadt – zu der neben einem renommierten Tanzfestival ja auch der weltweit geachtete Busoni-Klavierwettbewerb gehört.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Swinging mountain huts and other creative infiltrations
The South Tyrol Jazz Festival Alto Adige reinvented itself in 2024. Set in a spectacular environment, it offered numerous unique encounters and concert experiences. The new management team, consisting of Max von Pretz, Roberto Tubaro, and Stefan Festini Cucco, increasingly focuses on international cooperation and a dynamic young music scene. Collaborations with other festivals and funding institutions such as the NICA Artists Network are an important component. The unexpected arises mainly at the festival’s various „side locations“: a band led by the UK-based South Tyrolean bassist Ruth Goller delivered a unique performance with electric bass, drums, and vocals in Bozen’s trade fair hall.
A film concert in cooperation with the Bozen Film Club showcased the improvisational skills of saxophonist Daniel Erdmann, drummer Francesca Remigi, and keyboardist Olga Reznichenko to the silent film „Mr. Radio“ from 1924. A morning concert at the Roner distillery offered a chamber music gem through the Theremin player Pamela Stickney and guitarist Peter Rom. A planned open-air concert by the trio Haezz was moved to a wooden hut due to bad weather, transforming the cozy setting into an alpine jazz club.
The festival values stylish locations, such as the park of the Grand Hotel Laurin, where the trio led by Munich pianist Nils Kugelmann performed. At the „Batzenhäusel,“ a brewery in Bozen’s old town, the performance „Kabarila“ was presented, an improvisation based on archaic trance rituals and rave culture.
The South Tyrol Jazz Festival Alto Adige supports Bozen’s status as a UNESCO Creative City of Music and provides a platform for further networking and international influence. Festival director Stefan Festini Cucco sees this as an opportunity for closer collaboration between the city administration and cultural organizers, promoting further joint projects. The festival aligns with other cultural highlights of South Tyrol’s capital, such as the renowned dance festival and the Busoni Piano Competition.