Die Münchner Opernfestspiele eröffnen mit Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal, das der Komponist seine »letzte Karte« nannte. Georg Baselitz schuf das Bühnenbild, Jonas Kaufmann singt die Titelrolle, Kirill Petrenko leitet das Bayerische Staatsorchester. Die Aufführung lässt in ihrer emotionalen Wucht den Zuschauer mit vielen Fragen zurück. Von Stephan Reimertz.
Schließen Sie die Augen und beantworten Sie die Frage: Welchen zeitgenössischen Künstler würden Sie mit dem Bühnenbild zu Parsifal betrauen? Jonathan Meese? Der ist zweifellos ein Künstler, aber kein guter. Christoph Schlingensief? Auch er war ein Künstler, wenn auch kein bildender, sondern ein redender. Seine Welt war weniger das Kunstwerk als das Mundwerk. Aber wie wäre es mit Anselm Kiefer? Seine zerklüfteten Brachfelder und öden Äcker könnten als Landschaft der Gralsburg in Nordspanien figurieren. Tatsächlich erscheint Kiefer manchem Kunstfreund vor allem als Bühnenbildner und weniger als Künstler fürs Museum. Den zweiten Aufzug des Bühnenweihfestspiels, wo alles schauert, bebt und zuckt in sündigem Verlangen, würden wir als Kontrast zu Anselm Kiefer jedoch Karel Appel gestalten lassen. Im Gegensatz zu unserem Phantasie-Parsifal entschied sich die Bayerische Staatsoper für Georg Baselitz. Dieser Maler und Bildhauer ist, anders als viele seiner Kollegen, etwa Paul Klee, mitnichten ein Opernfreak, vielmehr hat ihn erst seine Frau an dieser Kunstgattung herangeführt. Freilich ist der Simplizissimus aus Baselitzens Frühwerk dem Parsifal verwandt.
I.
Georg Baselitz, ein erstaunlich vernünftiger Mann, spricht sich angesichts der neuen Inszenierung zur Genugtuung aller Opernbesucher entschieden gegen das Regietheater aus: »Wenn von Baum die Rede ist, kann man erwarten, dass bei mir ein Baum auftaucht.« Im sächsischen Landsmann des Komponisten mit seinen einfachen, hartkantigen Formen und starken Farben hätte mancher Kenner freilich eher einen Ausstatter für den Ring des Nibelungen gesehen als für das vergeistigte Bühnenweihfestspiel. Freilich ist zu loben, dass Baselitz sich für Prospekte und Kulissen entscheidet, statt für die derzeit modischen Projektionen, dass er gegen die Kino- und Hollywoodgefühle angeht, die man uns in der Oper in letzter Zeit immer häufiger suggeriert. In den abstrahierten Formen erinnert der Künstler in der neuen Opernausstattung zudem an seine eigenen frühen Heldenbilder und Vorhänge.
II.
Georg Baselitz befindet sich im ehrwürdigen Alter von Amfortas und Titurel, den in hohe Jahre gekommenen Rittern der Gralsburg in Wagners Bühnenweihfestspiel, Faust in höchstem Alter. Die kräftigen Farben und wuchtigen Formen seines Bühnenbildes freilich verraten von Altsein wenig, sie strotzen vielmehr von selbstgewisser Jugendlichkeit. Kein Zweifel, Georg Baselitz ist nicht allein ein Kunst- sondern auch ein Naturphänomen. Seine einfache und triumphale Ausstattung des neuen Münchner Parsifals begräbt alle anderen Elemente der Aufführung unter sich, vor allem die unentschlossene, nicht ausgereifte musikalische Interpretation des Bayerischen Staatsorchesters unter Dirigent Kirill Petrenko und die ernsthafte, bemühte, respektable, letztendlich aber das Werk geistig nicht durchdringende Regie von Pierre Audi. Dabei ist die Vision von Baselitz durchaus simpel und besteht nur aus drei Elementen.
III.
Erstens: Dem Bühnenvorhang. An der Wiener Staatsoper, wo man vor immer wieder neuen künstlerisch misslungenen Vorhängen aufseufzen muss, wäre man froh, einmal einen optisch so überzeugenden Vorhang vor sich zu sehen wie jetzt in München. Georg Baselitz präsentiert uns vier Männer, monochrom und skizzenhaft hingeworfen. Vor dem ersten Aufzug liegen sie, einander den Kopf zuwendend, übereinander, im zweiten und dritten Aufzug, hängen sie kopfüber; eine der zahlreichen von Baselitz endlos ausgeschlachteten Bildideen von Max Beckmann. Wir fragen uns: Wer sind diese vier Männer? Ein Premierenbesucher schlägt vor: Es handelt sich um die vier Evangelisten. Schließlich ist Parsifal ein christliches Weihfestspiel, wofür auch die geistlichen Besucher der Premiere sprechen. Eine Dame widerspricht: Richard Wagner legt, wie ja auch im Ring, im Parsifal den Kern des Mythos frei und macht die durchaus nicht allein christliche Substanz der sympátheia für Anhänger aller Religionen und Philosophien erfahrbar. Die vier Herren seien also musikalische Gegenfiguren des Komponisten: Brahms, Meyerbeer, Mendelssohn und Offenbach. Ein Besucher aus Venedig meint hingegen, es handle sich bei dem Kleeblatt um die quattro stagioni.
IV.
Das zweite Element von Georg Baselitzens Ausstattung bilden die abgehärmten Bäume und Wälder, welche die Verödung, den Verfall der Natur und der Ritterschaft verkörpern. Angesichts des Waldsterbens und der Erderwärmung haben wir allen Grund, in diesem Hinweis des Künstlers mehr zu sehen als nur eine Anspielung auf die Idee vom Tod der Natur, wie sie seit dem achtzehnten Jahrhundert tradiert wird. Das Vögel- und Insektensterben hat in Deutschland apokalyptische Ausmaße angenommen. So wie die Ritter im Parsifal den Anblick des Grals zu ihrer inneren Erfrischung und Neugeburt brauchen, so benötigen wir einen Gral der ökologischen und sozialen Neugeburt. Dies sagen uns Richard Wagner und Georg Baselitz hier mit großer Eindringlichkeit. Leider stieg das Publikum nach der Premiere in seiner Mehrheit wieder in die Hölle der Tiefgarage hinab, deren giftige Dämpfe man bis ins Foyer riecht, um mit seinen Limousinen und SUVs unsere Welt weiterhin zu vergasen. Könnte uns diese Parsifal-Aufführung wenigstens die Befreiung der Münchner Innenstadt von protzigen Karren bringen! Die innere Öde und Zerstörung des Menschen zieht auch jene der Umwelt nach sich, das ist eine Botschaft des Parsifals, und sie zeigte sich heuer wieder in höchster Aktualität. Innere Leere, Minderwertigkeitskomplex und Selbsthass bringen den Menschen dazu, mit einer protzigen Karre eine Kompensation anzustreben, doch sie verursachen nur äußere Zerstörung als Folge der inneren, ebenso wie die Gralsritter, denen Ideal und Haltung abhanden gekommen sind und die aus dem letzten Loch pfeifen. Das Zentrum der christlichen und vieler anderer religiöser Lehren, ebenso wie zentraler philosophischer lautet: Sympátheia. Die liebende Hinwendung zum anderen Menschen und zur Natur. In Wagners Worten: »Durch Mitleid wissend.«
V.
Das dritte Element in der frappierend einfachen Ausstattung von Baselitz ist die Nacktheit des Menschen selbst, hier dezenterweise verwirklicht in hautfarbenen Overalls, welche den männlichen und weiblichen Körper repräsentieren. Florence von Gerkan und Tristan Sezesny setzen als Kostümbildner Baselitzens Ideen um. Der Künstler zeigt uns, dass er die Arbeit als Bühnen- und Kostümgestalter für die Bayerische Staatsoper mitnichten als Mugge betrachtet, sondern voll und ganz als Bestandteil seines eigenen bildnerischen Werkes. Die Kostüme sind ansonsten etwas arg einfallslos geraten und erinnern, wie übrigens auch das bebäumte Bühnenbild, an Operninszenierungen der frühen siebziger Jahre.
VI.
Als ausgesprochen vor-boulez muss man auch die musikalische Interpretation empfinden, die uns Kirill Petrenko hier anbietet. Die kleinen Unexaktheiten und Giekser; geschenkt! Aber den Parsifal in München wie in einer Fremdsprache erklingen zu lassen, wie eine Gemeinschaftsarbeit von Tschaikowski, Rimski-Korsakow und Schostakowitsch, ist etwas ungewöhnlich. Ein Kritiker schrieb: Petrenko konnte sich von der Münchner Parsifal-Dirigiertradition befreien. So kann man’s auch ausdrücken! Kirill Petrenko dirigiert seinen ersten Parsifal; man kann sagen, er musiziere filigran, luzide, zeige geistige Freiheit und Offenheit. Die Partitur ist jedoch so intellektuell, vergeistigt, beziehungsreich und musikgeschichtlich aufgeladen, dass der reine Tor sich in diesem Werk allein auf der Bühne, nicht aber am Dirigierpult offenbaren darf.
VII.
Der durchschnittliche Münchner Opernbesucher ist fünfzig bis siebzig Jahre alt und vollkommen durch den musikalischen Strukturalismus geprägt. Kirill Petrenko, der sich an der Staatsoper als so genialer Interpret von Dimitri Schostakowitsch gezeigt hat, etwa bei dessen zweiter Oper Lady Macbeth von Mzensk, stellt nun einen unentschlossenen, teilweise verquollenen, nicht zu Ende analysierten und durchdrungenen Parsifal mit überhöhten Tempi vor. Die angejahrten Zuschauer vergaßen ihre jahrzehntelange Wagner-Erziehung durch Wolfgang Sawallisch und spendeten dem Dirigenten Standing Ovations, die allerdings auch der Tatsache geschuldet sein mögen, dass man nach viereinhalb Stunden reiner Sitzzeit einfach einmal aufstehen möchte. Nein, Freunde, so geht es nicht!
VIII.
Die Inszenierung ist von großer Ernsthaftigkeit, verdient deshalb Respekt und unterscheidet sich sehr wohltuend vom letzten Parsifal an der Wiener Staatsoper von Alvis Hermanis im vergangenen Jahr. Dennoch offenbart Regisseur Pierre Audi am Schluss, dass er das Stück nicht verstanden hat. Er drückt sich um die Auseinandersetzung mit der Figur der Kundry, wie vor ihm Harry Kupfer, Alvis Hermanis und viele andere. Dabei ist über kaum einen Aspekt des Wagnerschen Werkes soviel geschrieben worden wie über Kundrys Tod, die ihn vorauskündende g-Pauke und die mit dem Dahingehen dieser zentralen Figur verbundene Formel »Erlösung dem Erlöser!« In der Partitur heißt es: »Kundry sinkt, mit dem Blicke zu ihm auf, vor Parsifal entseelt langsam zu Boden.« Das entscheidende Wort ist hier: entseelt. Kundry repräsentiert die innere Zerrissenheit des modernen Menschen, das Wiedergeborenwerdenmüssen, das, metaphorisch gesprochen: »Jüdische«. All dies wird mit ihrem Tod aufgehoben. Bei Audi sinkt Kundry am Bühnenrand in sich zusammen, bleibt aber am Leben. Thema verfehlt, setzen, sechs!
IX.
Nina Stemme, die im Unglücks-Parsifal in Wien vor einem Jahr die weibliche Hauptrolle sang, mag froh sein, dass sie nun in einer Inszenierung von ernsthafter Ambition auftreten kann. Der Gehalt des Stückes wurde jedoch so weit verfehlt, dass man auch in München von einer sinnlosen Inszenierung sprechen muss. Stoff- und quellenkundliche Nacharbeiten und eine Nachkorrektur der Regie könnten die Produktion jedoch noch retten. Kirill Petrenko freilich ist überhaupt kein Wagner-Dirigent. Wir sollten in München von ihm profitieren, solange er da ist, und ihn möglichst viele Opern von Tschaikowski. Rimski-Korsakow, Smetana, Janáček und Schostakowitsch dirigieren hören. Seine vollkommene Fremdheit gegenüber Wagner bringt leider keine neue Sicht auf diesen Komponisten.
X.
Der Sänger Jonas Kaufmann spricht angesichts dieses außergewöhnlichen Musikdramas von »transzendenter Wanderung«, und in der Tat erklingt der innere Weg jedes Einzelnen in dieser nie zuvor dagewesenen Musik. Der Begriff Verwandlungsmusik, eigentlich nur den Bühnenumbau bezeichnend, sagt hier sehr viel mehr; die symphonischen Zwischenspiele führen den einzelnen Hörer aus seiner eigenen Nacht ans Licht. Kaufmann, sympathischer Repräsentant des Weltbayerntums, verkörpert physisch, darstellerisch und stimmlich den idealen Parsifal, und auch die so existentielle, modern musikdramatische Auffassung, welche Christian Gerhaber seinem Amfortas angedeihen lässt, der tief verletzt und blutend darüber klagt, dass er nicht sterben kann, fuhren den Zuschauern in die Knochen. Zudem wird hier Amfortas entgegen der Regietradition nicht hereingetragen, sondern er geht selbst. Dadurch wirkt er aktiver als in bisherigen Inszenierungen. Sein Auftritt zu Glockenklang ist einer der emotional starken Momente dieser Inszenierung.
XI.
Bei Wolfram von Eschenbach ist die Wunde des Amfortas eine Verletzung des Genitals; wir können bei Wagners Version von einer Verletzung im Herzen sprechen. Die Notation der Partie ist sehr abwechselnd, Ausbrüche gegen Piano- und Pianissimo-Stellen, man spricht von einer »Gabel« (Crescendo und Decrescendo im Orchester). Die innere Unruhe der menschlichen Natur singt keine Figur der Operngeschichte so eindringlich wie Amfortas, und Christian Gerhaber, ein sehr gebildeter und reflektierter Sänger, gibt ihm in München eine überzeugende und glaubhafte Stimme.
XII.
Die Figur des Amfortas erscheint nur allzu zeitgemäß in unserer Epoche des frevelhaften am Lebenhaltens schwerstkranker Sterbewilliger. Der Gral, jene Schale, mit der das Blut des Gekreuzigten aufgefangen wurde, ist bei Wagner aus ihrem konfessionellen Zusammenhang gelöst und in einen universalen humanen Kontext der Erlösung der ganzen Menschheit gestellt. Sympátheia ist der einzige Weg, durch Mitleid wissend. In einer Zeit, da die Opfer unserer verfehlten Nahostpolitik an unserer Tür klopfen, weil sie zu Hause nicht überleben können, von uns abgewiesen und, wenn doch ins Land gelassen, von oben herab betrachtet werden, ist Wagners Bühnenweihfestspiel wieder einmal von hoher Aktualität und neigt uns eine andere, neue Seite zu. Auch der blasphemischen Entwürdigung des Kruzifixes durch die bayerische Staatsregierung muss der Zuschauer gedenken, wenn Parsifal dem Gurnemanz am Beginn des dritten Aufzuges den etwas mickrig geratenen Speer übergibt.
XIII.
Diese Szene ist leider ebenfalls verpfuscht. Wenn Gurnemanz nach vielen Jahren den einst reinen Toren Parsifal erkennt und begreift, dass der Verwandelte als neuer Gralskönig die Ritterrunde erlösen wird, ist dies ein Moment von höchster musikalischer und geistiger Intensität. In der Inszenierung von Christof Nel (Frankfurt 2006) sind die Darsteller dem Charakter dieser wohl erschütterndsten Szene der musikdramatischen Literatur voll und ganz gerecht geworden. In München übergibt Jonas Kaufmann dem René Pape ein kleines Staberl, das kaum als welterschütternder Speer herhalten kann. Der Münchner Stecken könnte einem Gemälde von Murillo entstammen, wo der kleine Christusknabe einen Stock hochhält. Ein Fehler ist auch, dass er in ein kleines Kreuz ausläuft, wo doch Wagner im Bühnenweihfestspiel den Mythos dem Konfessionellen gerade entwinden wollte. Diese Stellen der Regie bleiben unreflektiert und nicht durchdacht. Doch eine grundsätzliche dramaturgische und musikalische Überarbeitung könnte die Produktion retten, welche viele interessante Ansätze bietet. Wir sind von Leidenden aus aller Welt bedrängt und können innerhalb und außerhalb unserer Grenzen den Tod im Leben allein durch die Kunst und die Hinwendung zum Nächsten überwinden, daran mahnt uns Richard Wagners Bühnenweihfestspiel auch in dieser noch nicht ausgereiften Inszenierung. Um es in Worten von Herbert Marcuse auszudrücken: »Was der Mensch dem Menschen und der Natur angetan hat, muss aufhören, radikal aufhören. Dann erst und dann allein können die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.«
Parsifal
Bayerische Staatsoper
Termine im Juli 2018 und März 2019 hier
Bayerische Staatsoper
Max-Joseph-Platz 2
80539 München
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