Welch eine Wiedereröffnung! Das Gärtnerplatztheater in München ließ am Mittwoch eine Handvoll Glücklicher ein, das »Traumballett« Undine von Choreograph Karl Alfred Schreiner zu bestaunen. Eine Rezension von Stephan Reimertz.
Was Philosophie und Psychoanalyse können, kann das Tanztheater schon lange; ja es vermag noch darüber hinauszugehen. Sigmund Freud war von seiner eigenen Thanatos-Theorie so erschrocken, er mochte sich nur in Andeutungen darüber ergehen und stellte die Frage in den Raum, ob nicht die Genugtuung des Mörders und unser eigentümliches Interesse an Morden auf unsere eingeborene Erinnerung an den Urschmerz zurückgehen können, den es bedeutet hat, einst von der anorganischen in die organische Existenz fortzuschreiten. »Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / wäre zu weit und litte schon zu sehr.« Ein zweiter Geburtsschock dieser Art ereilte den Vorfahren des Menschen sodann, als er aus dem Wasser auf die Erde kam. Jeder Schwimmer, der an Land geht, kann das immer noch nachempfinden. Jener doppelt rückgekoppelter Geburtsschmerz ist das Thema des neuen Tanztheaterabends am Münchner Gärtnerplatz.
Ein philosophisch-anthropologischer Ansatz
Was in einer Produktion wie Jean & Antonín desselben Choreographen dem oberflächlichen Betrachter noch wie Todesverliebtheit oder gar Nekrophilie erscheinen konnte, zeigt sich hier nun als kühner und revolutionärer Ansatz des Schöpfers Karl Alfred Schreiner. Allmählich tritt das gewaltige Gesamtanliegen seines Werkes zu Tage. Nichts weniger strebt er an als die menschliche Existenz bis an ihre phylogenetischen Ränder auszuloten. Undine ballt seine Ansätze nun auf einen Moment zusammen, welcher die organische Urzeugung ebenso wie die ersten Schritte an Land symbolisch wiederholen: Der überaus schmerzlich Landgang eines Wasserwesens, seine Liebe zu einem Erdenmenschen, Selbstentgrenzung und Neubegrenzung in ein und demselben Geburts- und Wiedergeburtsakt.
Über die Tradition hinaus
In dem wie immer am Gärtnerplatz knappen, aber schmucken und nützlichen Programmheft führt Dramaturgin Feodora Wesseler aus, wie der uralte Undinemythos sich durch die Jahrhunderte entwickelte und zu solchen wunderbaren Blüten erwuchs wie im Neunzehnten Jahrhundert die Erzählungen von Friedrich de la Motte-Fouqué, Hans Christian Andersen und Oscar Wilde, die Zauberopern von E. T. A. Hoffmann und Albert Lortzing. Als aufgeklärter und reflektiver Künstler des Einundzwanzigsten Jahrhunderts geht der Choreograph Schreiner noch einen Schritt weiter als die ehrwürdigen Vorväter. In seiner Vision durchlebt und durchleidet Undine den Menschen- ja den Seinsursprung schlechthin. Schreiner und das Ensemble des Gärtnerplatzes entwickeln dazu eine choreographische Sprache, die es ihnen ermöglicht, auf einem hohen tänzerischen und darstellerischen Abstraktionsniveau in dem Moment des Landgangs, der Menschwerdung und des Liebeserlebnisses von Undine die Urerinnerungen an die Geburt allen Lebens in jedem Moment wachzuhalten.
Eine andere Form von Handlungsballett
Die Produktion transzendiert auf diese Weise auch das seit Jahren allzusehr wieder im Schwange befindliche Handlungsballett. Denn die Handlung wird hier wie in der Erinnerung reflektiert. Dazu stimmt die choreographische Pathosformel, welche nie ins Mimetische fällt, also etwa Fisch- oder Unterwasserbewegungen auf der einen Seite oder puppenhaft ungelenke Gehversuche auf der anderen übertreibt, sondern immer nur andeutet. Rein technisch gesehen bedient sich die Choreographie dabei einem Ineinanderfließen von Ballett und Ausdruckstanz. Das Gärtnerplatztheater hat das Glück, ein Ballettensemble zu besitzen, welches aus lauter hochartistischen Solisten besteht. Den Kampf ins Individuelle vorzurücken und den kollektive Rückzug ins Kreatürliche, wie Vor- und Rückbewegungen kosmischer Wellen, all das setzen Tänzer um, welche zugleich vollblütige Darsteller sind. Primaballerina Amelie Lambrichts zeigt sich als eine starke, aber eben nur als eine von vielen möglichen Verkörperungen der Titelheldin, jeder der Tänzerinnen ist hier auch Undine.
Gustav Mahlers Film- und Bühnenmusik
Das gleiche gilt für David Valencia als männlich-irdischen Widerpart, welcher sich zugleich in den Herren des Ensembles wiederfindet. Die Konstellation eröffnet den Platz für vielerlei tänzerische Variationen. Die Bühne von Heiko Pfützner gibt eine kristallklare Idee von Unterwasserleben und bedient sich dazu eines Relikts, welches für uns Corona-Geschädigte derzeit zum Alltag gehört: der Plexiglasscheibe. Caroline Czaloun-Moore variiert die Konkretion ihrer Kostüme: Rheintöchter, spacig oder grelle Bademode. Die Unterwasserwelt ist zugleich das Weltall, wie es schon John Neumeier in den befremdenden Wesen zwischen Nixe und Roboter in seinem Sommernachtstraum andeutete. Kapellmeister Michael Brandstätter und das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unterlegen diesem philosophischen Tanztheater Gustav Mahlers unvollendete 10. Symphonie, sein letztes Werk, in der sog. Cooke-Version, zudem für Kammerorchester zusammengestrichen von Michelle Castelli. Der Eindruck ist nicht völlig von der Hand zu weisen, Mahlers Musik habe als Film- und Bühnenmusik erst ihre volle Bedeutung und Wirkung erlangt.
Zeitlichkeit versus Ewigkeit
Die Zehnte gewinnt im Zusammenhang mit dieser außergewöhnlichen Ballettproduktion jedenfalls ihr ganzes wehes Moment und wird zur Erinnerungsmusik von Geburt und Verlust. Allein eine Kammerfassung konnte hier ihren Zweck erfüllen, das ganze große Mahlerorchester hätte das Bühnengeschehen erschlagen. Musik und Tanz werden je für sich und gemeinsam zur Reflexion der Zeit und Zeitlichkeit. Im Versuch, eine Abfolge von Geschehnissen möglich zu machen, mit anderen Worten: ein Leben, wird der schmerzhafte Anfang und seine Spiegelung: das Ende, immer wieder durchlebt. Dieses Traumballett ist ein Traumaballett. Der Mensch, das Lebewesen überhaupt, bäumt sich auf und tritt doch auf der Stelle. Im Ursprung spiegelt sich zugleich das Ende der Gattung, des Seins.
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Gärtnerplatztheater München
Gärtnerplatz 3
80469 München
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