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Wir alle sind gezeichnet

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Tomasz Konieczny, die grimmigste Wagnerstimme des Opernbetriebs, brilliert in München in den Gezeichneten von Franz Schreker. Diese Oper ist eine Herausforderung für Musiker und Zuhörer, findet Stephan Reimertz. Die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski überzeugte ihn fast und erteilt nebenbei Nachhilfeunterricht in Design- und Filmgeschichte.

Ich weiß nicht, ob der in Lodz geborene Tomasz Konieczny schon einmal den Hunding in der Walküre gesungen hat. Für den furchterregenden germanischen Rächer wäre der Sänger aus Polen die Traum-, vielmehr Alptraumbesetzung. So gewaltig und fürchterlich kann er auftreten und mit seiner starken, durchs Mark dringenden Bassstimme beim Zuhörer Gänsehaut auf dem Trommelfell erzeugen. Wotan und Alberich zählen ebenso zu seinem Repertoire wie diverse Rollen des modernen Musiktheaters. In der Inszenierung der Gezeichneten von Franz Schreker am Bayerischen Nationaltheater singt Konieczny derzeit den Adorno, Herzog in einem fiktiven Genua, das mit der ligurischen Stadt ebenso viel gemein hat wie der Herzog mit dem Autor der Negativen Dialektik.

Perverse Filmmusik

Regisseur Krzysztof Warlikowski, Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczęśniak und Videokünstler Denis Guégin zeigen an der Bayerischen Staatsoper in München eine musterhafte Inszenierung eines der aufwühlendsten Werke in der Geschichte des Musiktheaters. Die Gezeichneten von Franz Schreker wurden im April 1918 in dem der Avantgarde verpflichteten Opernhaus Frankfurt uraufgeführt. Die Münchner Erstaufführung folgte im Jahr darauf an jenem Ort, an dem wir seit letztem Jahr die Neuinszenierung – nein, nicht genießen, denn das Wort Genuss wäre angesichts des Themas der Oper und ihrer Durchführung fehl am Platz; sagen wir besser: studieren und erleiden. Dabei klingt die Musik für manchen Hörer oft wie Filmmusik der fünfziger Jahre. Die Filmkomponisten jener Zeit folgten denselben Vorbilder wie Schreker: vor allem Wagner, Debussy und Mahler. Franz Schreker, der eigentlich Schrecker hieß – dieser Name frommte ihm weit besser – wollte der einzige Nachfolger Wagners sein, aber dazu hätte seine Musik sich zur der seiner Zeit in einem Spannungsverhältnis befinden müssen wie Wagners zu jener der seinen. Statt dessen präsentiert Franz Schreker uns in den Gezeichneten die Partitur als allesfressenden Fleischwolf, der, was er auch findet, blutig zerhackt und vermengt und am Ende eine Musik ausspuckt, in der das musikalische Erbe ebenso west wie der psychiatrische Diskurs der Epoche; speziell, was die Sexualpathologie angeht. Ein paar Jahre zuvor war die 14., vermehrte, Auflage der Psychopathia Sexualis von Richard Krafft-Ebing herausgekommen, ein medizinisches Werk, das 1886 zum ersten Mal erschienen war, und das alle nur denkbaren und undenkbaren Perversionen auflistet, wenn auch auf Latein.

Musikalische Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung

Krafft-Ebings Enzyklopädie der Perversionen gegenüber hat die Musik von Franz Schreker den Vorteil, dass sie die Irrwege an der seelischen Wurzel packt und in ihren soziologischen Kontext einbettet. Die Oper wird zum Erkenntnisinstrument, und die Erkenntnis ist schmerzhaft. Während des Krieges komponiert, spiegelt das Werk Schrekers Hypersensibilität ebenso wie die kollektiven Traumata und die Perversion, die der Komponist umso schärfer analysiert, als er selbst Teil daran hat. Die Gezeichneten spiegeln die massive und kollektive Posttraumatische Belastungsstörung nach dem Ersten Weltkrieg und stellen der gerade entstehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung den Totenschein aus, bevor diese überhaupt auf die Beine gekommen ist. John Saszak spielt und singt den Alviano Salvago, eine Figur, die der Dichter und Komponist psychisch nach dem Alberich Wagners konzipierte: Der Genueser Adlige schwor wegen seiner eigenen Missgestalt der Liebe ab. Hier schadet die Regie der Figur, indem sie diese mit dem Schöpfer identifiziert. Eine solche Methode ist weder wissenschaftlich noch künstlerisch zu vertreten. Sie gipfelt in einem Referat für zehnjährige Klavierschüler, in dem Salvago-Schreker seine musikalischen Absichten im Wikipedia-Stil erklärt. Man stelle sich vor, Siegfried marschierte mitten in dem gleichnamigen Stück auf die Bühne, behauptete, Wagner zu sein und erläuterte in der Ich-Form die Absichten des Komponisten.

Sadomasochismus als Philosophie und Opernabend

Eine Insel mit dem Namen Elysium mit Grotte, in der geraubte Bürgermädchen vergewaltigt und getötet werden, und das Ganze als Schenkung an die Gemeinde; das ist eine dramatische Idee, auf die man erst einmal kommen muss. Der Dichter und Komponist dieses Arrangements garniert sein Werk zudem mit verqueren Liebesgeschichten. Die Gezeichneten dürfte die Lieblingsoper der sadomasochistischen Gemeinde sein. Auch sollte man einmal in Erfahrung bringen, ob es eine Schreker-Rezeption in Japan gibt, etwa bei Yasunari Kawabata oder Yukio Mishima. Von der heiß-kalten Gewalt dieses Werkes dürfte indes jeder Hörer gepackt werden. Man spürt, Franz Schreker spricht hier über sich, er schreit sein Innerstes hinaus, und die dramaturgische und musikalische Genialität ist nur eine Folge des Zwanges, unter dem dieser Mensch in seinen eigenen Besessenheiten die unterschwelligen Süchte und Manien der Epoche bekennt und darstellt.

Die Gezeichneten @ Wilfried Hösl
De te fabula narratur!

In ihrer symphonisch durchkomponierten Großform wirkt die Oper wie ein Staubsauger, der alle Stile der Zeit aufsaugt und auch vor dem verminderten Septakkord nicht zurückschreckt, den wir eher in der Operette erwarten. Bewegt der Sprechgesang sich vor allem am Ende einer Phrase in der Nähe Wagners, befinden wir uns angesichts des hemmungslosen Gebrauchs der Harfen wiederum in der Sphäre der Filmmusik, und zwar gerade dann, wenn uns die Regie dies nicht suggeriert. Krzysztof Warlikowski hat diesen Umstand ebenso wenig unbemerkt gelassen und präsentiert uns am Ende ein paar Filmausschnitte zur Musik. In der Tat passen die Sequenzen aus dem Golem von Paul Wagener und Carl Boese (1925), Nosferatu von F. W. Murnau (1922) The Phantom of the Opera von Rupert Julian (1925) usw. perfekt zur jeweiligen musikalischen Stelle. Das dramaturgische Problem besteht jedoch in der Suggestivität, die solchen Filmen eigen ist, und die Musik und Gesang zu überwältigen drohen. Das Regieteam will die Aufführung um jeden Preis zu einem historisch-dialektisch durchgearbeiteten Event machen, und das ist ihm auch gelungen. Doch verquirlt wird allzu Bekanntes. Die Bühnenbildnerin scheint einen ganzen Schock großformatiger Bildbände über die Geschichte des Designs zu Hause zu haben und oft durchzublättern. Doch ihre Sessel, Tische und Hocker erscheinen uns nicht ganz so erstaunlich wie ihr. Dazu passen die von ein paar Kunstgeschichts-Damen verfassten steilen Aufsätze im Programmheft. Auch die Idee, dem Publikum mittels eines Spiegels zu sagen: Es geht hier um Euch! stand bereits im Witzkalender des Neandertalers. Der vorwurfsvoll ins Publikum starrende Chor der Mannen in Patrice Chereaus Bayreuther Ring in den siebziger Jahren, das Nachäffen des Publikums im Tannhäuser von Harry Kupfer am selben Ort, oder, um ein neueres Beispiel zu nennen, die Oper von Thomas Adès nach Shakespeares Tempest, 2015 in Wien aufgeführt, wo wir in den Zuschauerraum der Mailänder Scala starren, spiegeln mit naivem Gestus den Betrachter, als täte dies nicht jedes Kunstwerk. Wir wissen jedoch in jedem Fall, dass wir die Gezeichneten sind, auch ohne einen Spiegel in der Staatsoper.

Politisch hellhörig

Ein Marxist müsste Franz Schrekers Gezeichnete ebenso begrüßen wie ein Monarchist. Dieses Bühnenwerk zeigt, in welche Machtspiele, Perversionen und Verbrechen der Mensch fällt, wenn man ihn ohne autoritative Aufsicht lässt und er tun kann, was er will. Die Gezeichneten stellen die bürgerliche Republik von 1918 als Totgeburt dar, und bekanntlich sollte die Prognose recht behalten. Auch ohne die hundert winkenden Zaunpfähle dieser doch so virtuosen und durchgestylten Inszenierung haben wir allen Grund, uns zu fragen, was das prophetische Werk nicht zuletzt über uns und unsere Zeit aussagt. Die Gezeichneten sind lang und anstrengend. Warlikowskis Regie ist ebenso konsequent durchdacht wie Szczęśniaks Bühnenbild. Die Sänger und das Staatsorchester unter der Leitung von Markus Stenz mit Chor und Kinderchor bieten mit dieser Aufführung wieder einmal eine herausragende Leistung.

Die Gezeichneten
Alle Termine hier

Bayerische Staatsoper
Max-Joseph-Platz 2
80539 München

 

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Ein Gedanke zu „Wir alle sind gezeichnet“

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