„They played all by heart….“ wenn Susan Wadsworth, Gründerin und Leiterin der New Yorker Stiftung Young Concert Artists im Gespräch die Qualitäten des auswendig musizierendes Baltic Sea Philharmonic lobte, konnte diese englische Übersetzung von „ohne Noten spielen“ wörtlich genommen werden: So komme einfach eine andere, tiefere Dimension des Musizierens ins Spiel, sobald die Musik nicht mehr „abgelesen“ werde. Hautnah erlebbar war dies beim Eröffnungskonzert des 25. Usedomer Musikfestivals mit dem Baltic Sea Philharmonic unter Leitung von Kristjan Järvi.
Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel war ins ehemaligen Kraftwerk der einstigen „Heeresversuchsanstalt“ Peenemünde gekommen und begrüßte Künstler wie Publikum mit einem Appell an Toleranz und Völkerverständigung, der gerade an diesem sensiblen Ort nötig sei. In Peenemünde wurden einst die Grundlagen für die Raketentechnologie gelegt und Vernichtungswaffen im Zweiten Weltkrieg produziert. Heute wird das Industriedenkmal kulturell genutzt und ist zu einem musikalischen „Kraftwerk des Lebens“ geworden.
Was Dirigent Järvi für Emotionen habe, wenn er heute an diesem Ort musiziert? Er und sein vor zehn Jahren gegründetes Baltic Sea Philharmonic wollen dazu beitragen, dass Musik frische Energien aus dem „Jetzt“ und „Heute“ an die Stelle der schlimmen Historie setze. Wenn nun sogar „the leader of Germany“ zur Geburtstagsparty gekommen sei, zeuge dies davon, gewisse Dinge richtig gemacht zu haben…
Die Ostsee zeigte sich stürmisch an diesem Tag. Entsprechend „passte“ Jean Sibelius Konzertsuite „Der Sturm“, die ein Kaleidoskop aus nordischer Melancholie und tänzerischer Emphase überwältigend in Szene setzte. Das Analytische trat bei der „Auswendig-Interpretation“ seitens des Baltic Sea Philharmonic spürbar zurück, dafür wuchs die atmende, singende Dimension immens – ganz zu schweigen von der völlig umgewandelten Bühnenpräsenz von Musikerinnen und Musikern, die sich frei bewegen und direkt untereinander und mit ihren Publikum kommunizieren.
Einmal so in Fahrt, sollte man dranbleiben, um das Publikum zum Ausrasten zu bringen! Järvi und sein unkonventionelles Orchester huldigten diesem Aspekt einmal mehr in Imants Kalnins Rock Symphony. Dieses Stück ist so, wie es heißt – und kommt treibend, repetitiv, mit mächtigen Riffs daher! Das Publikum in Peenemünde riss es von den Stühlen.
Das Meer soll nichts Trennendes sein beim Usedomer Musikfestival, welches – von der östlichsten deutschen Ostseeinsel ausgehend – bewusst Interpreten, Komponisten und Ensembles aus allen zehn Anrainernationen vereint. Vor 25 Jahren schickten sich die Macher – vor allem Festivalintendant Thomas Hummel und sein kompetenter Partner Jan Brachmann – an, die Region kulturell zu beleben. So könne man ja auch Besucher jenseits der Badesaison in die stilvollen Kaiserbäder mit ihrer frisch aufpolierten touristischen Infrastruktur und ins verträumte Hinterland locken. Die Aufbruchstimmung nach Grenzöffnung und Wiedervereinigung war eine überaus fruchtbare. Bewusst wurde gleich zu Beginn etwas für überregionale Ausstrahlung getan, wozu es große, internationale Namen braucht und hier mit Kurt Masur ein wichtiger Förderer gefunden wurde. Ein engagierter Musikbetrieb soll auch politische Botschaften nie vernachlässigen – diesem Credo huldigte so manche symbolträchtige Aufführung. Vor allem ein Konzert mit Benjamin Brittens „War Requiem“ durch den russischen „Jahrhundert-Musiker“ Mstilav Rostropovich unter Beteiligung eines Chores aus Coventry hat hier Musikgeschichte geschrieben. So etwas überzeugte auch die lokale Tourismuswirtschaft davon, dass Kultur ein wichtiger, weicher Standortfaktor ist. Entsprechend kam eine gut geölte Vernetzung mit zahlreichen lokalen Sponsoren früh in Gang.
Kultur-und Naturerlebnis werden miteinander eins auf Usedom, aber auch auf der polnischen Nachbarinsel Wollin. Da vermittelt etwa das kleine Dörfchen Liepe eine herrliche dörfliche Abgeschiedenheit: Dorfbewohner und internationale Gäste füllen am Festival-Eröffnungswochenende das kleine Kirchlein bis in die letzte Reihe aus. Was hier geboten wird, darf gut und gerne mit dem Wörtchen „Sternstunde“ bezeichnet werden: Ja, man darf dieses Wort einmal strapazieren bei der 27-jährigen Chinesin Hanzhi Wang. Wie sehr sie die Dynamik in Bachs c-Moll-Partita auf dem Akkordeon atmen lässt, lässt so manchen Organisten alt aussehen. Ist es deren langjährige Erfahrung als Konzertpianistin, die nun in dieses andere Instrument einfließt? Das unmittelbare Klangereignis, aber auch tief spirituelle melodische Aspekte favorisiert Sofia Gubaidulinas „De Profudis“. Hanzhi Wangs restloser Körpereinsatz und dieser schonungslose Willen zur Ausgestaltung faszinierte das Publikum – und polarisiert auch gerne mal.
Weiter geht die Entdeckungsreise ins kleine Dorf Krummin, direkt am Achterwasser, einem großen, vor allem bei Seglern beliebten Binnengewässer. Auch hier steht mit der Sankt Johannis-Kirche eine alte, akustisch herrlich klingende Aufführungsstätte bereit. Und einmal mehr sorgt die in New York ansässige Stiftung „Young Concert Artists“ dafür, dass Weltklasse geboten wird: Denn das liefert die Violinistin Soobeen Lee und ihre Klavierpartnerin Dina Vainshtein. Die bis ins feinste Detail perfekte Technik der jungen Geigerin bedarf eigentlich keiner Erwähnung mehr! Aber dieses vor Selbstbewusstsein strahlende Spiel, welches sich in Beethovens Sonate G-Dur erhebt und in Eugene Ysayes „Poème Elegique“ berückende Tiefen durchmisst, welches in Bartoks Rhapsodie Nr. 1 lodernden tänzerischen Schwung entfesselt und schließlich in Camille Saint-Saëns Sonate für Violine und Klavier so viele schwärmerische Erregungsszustände auftürmt – das zeugt von begnadeter, beglückender Reife. Wie alt die junge Dame ist? Gerade 17 geworden.
Das Usedomer Musikfestival agiert zwischen Deutschland und Polen grenzübergreifend. Das liegt nahe, wo man aus dem Strandkorb im Seebad Bansin die Hafenkräne im polnischen Swinousce, ebenso wie das neu gebaute schicke „Radisson Blue Resort“ sehen kann. Hier kommen unter andere neue Werke baltischer Komponisten unter Leitung des Litauers Geldiminas Gelgotas zur Aufführung. Und wer auf Usedom zum niedlichen Schloss Stolpe vordringt, darf sich über Meisterschüler des litauischen Cellisten David Geringas freuen.
Das Festival wird bereichert durch Vorträge und eine sehr sehenswerte Fotoausstellung in der Villa Irmgard im Badeort Heringsdorf, ebenso musikalisch gestaltete Inselexkursionen, die sich über diese weite Region fernab jeder Großstadthektik erstrecken. Am 13. Oktober soll das Festival wieder dort enden, wo es begonnen hat – nämlich im Kraftwerk des Museums Peenemünde: Mt dem großen Abschlusskonzert mit der NDR Radiophilharmonie unter Robert Trevino und dem Violinisten Sergey Dogadin.
Wer jetzt schon Reisepläne fürs nächste Jahr schmiedet, sollte sich schon mal den Zeitraum vom 21. September bis 12. Oktober 2019 vormerken für das nächste 26. Usedomer Musikfestival. Hochkarätige Gastspiele des Baltic Sea Philharmonic gibt es schon vorher – und zwar am 26. Juni 2019 in der Berliner Philharmonie und am 2. Juli 2019 in der Hamburger Elbphilharmonie.
Infos und komplettes Programm hier.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.