Von Stefan Pieper.
Die Atmosphäre auf der Insel Usedom taugt Ende September und Anfang Oktober bestens dazu, den Herbst in seiner ganzen Intensität zu feiern. Tiefes Morgenrot leuchtet über dem Horizont, wenn die Sonne aufgeht. Die See war in diesem Jahr verblüffend ruhig. In der aufziehenden Dämmerung, die auf den Wasserflächen und im weiten Hinterland der Küste noch allumfassender wirkt, leuchtet es behaglich hinter den Kirchenfenstern der kleinen, weit über die Insel verstreuten Dörfer und Städtchen. Ideale Schauplätze also, um in die vielen Schichten des Usedomer Musikfestivals einzutauchen, das in diesem Jahr seine 30. Ausgabe feiern konnte.
Einer der Schwerpunkte des Festivals ist die Auseinandersetzung mit der Kultur eines ausgesuchten Gastlandes – und da reichte der Blick in diesem Jahr nach Lettland, dessen Musikkultur aus Tradition und Gegenwart eine echte Horizonterweiterung darstellt und auch in Zeiten globaler Spannung ein politisches Statement setzen kann:
So macht etwa das junge lettische Jazzquintett „Dream Teller“ erfahrbar, wie lebendig diese Komponenten in der heutigen Musikszene dieses Landes miteinander verwoben sind. Links und rechts vom Altarraum der Kirche im Küstenort Zinnowitz liefern Gitarrist Svens Vilsons und Keyboarder Edgars Cīrulis den harmonischen Rahmen. Im Zentrum bilden die drei Sängerinnen zugleich die Perkussion-Gruppe. Der lyrische Traum-Zustand, den die Musik dieser Band entfaltet, ist an jeden avancierten Indiefolkpop anschlussfähig, baut aber auch auf einer verfeinerten Instrumentenbeherrschung, die aus dem Jazz kommt. Hörbar ist bei jedem Ton: Die eigene Kultur mit ihren Melodien und Klangfarben brennt auf der Seele.
Mittlerweile ins westeuropäische Bewusstsein vorgedrungen ist die elementare gesellschaftliche Bedeutung von Gesang als politisch einflussreicher Kraft in den baltischen Ländern – Stichwort „Singing Revolution“. Der Dirigent und Chorleiter Ints Teterovskis hat im letzten Jahr in Riga einen Riesenchor aus bis zu 30.000 Menschen dirigiert. Zugleich leitet er seit den 1980er-Jahren den Chor Balsis, einen der wohl ausstrahlungsmächtigsten Vokalklangkörper im Lande. Was die jungen Musikerinnen und Musiker in der Stadtkirche von Usedom zu Gehör brachten, sagte dann auch unglaublich viel über die elementare Kraft, die darin wohnt und sich auch in den durchtrainierten Stimmen dieses Chores ausdrückt.
Kultur darf nicht leise sein!
Ältere und zeitgenössische Stücke von Janis Cimze, Valters Kaminskis, Jazepts Vitols, Emilis Melngailis und Eimils Darzins lieferten allein schon durch ihre kraftvollen Crescendi ein beredtes Statement dafür, dass Kultur nicht leise sein darf, wenn es um Humanität geht. Was für ein, hierzulande weitgehend unentdeckter Reichtum tut sich hier auf, mit seinen kühnen Intervallsprüngen und rhythmisch vertrackten, oft dialogisch geführten Gesangsstimmen. Aufschlussreiche Hintergrund-Erläuterungen taten ihr übriges: Immer wenn sich Lettland von Fremdherrschaft, sei es vom zaristischen Russland, von Deutschland und zuletzt 1991 von der Sowjetunion, befreien konnte, wurden erst mal neue Opernhäuser und Konservatorien gegründet. Eine solche „Wertschätzung der Kultur durch die Politik“ wäre ja auch mal was in unserem Lande….
Lettische Musik, vor allem im Gesang, soll über weite Distanzen tragen. Dies machte auch das Vokalensemble Saucējas deutlich, deren Darbietung die älteste Kirche auf Usedom nahe dem Örtchen Liepe, umgeben von einer lauschig verwilderten Gartenlandschaft, in einen besonderen Ort verwandelte. Im Gegensatz zum Balsis-Jugendchor fokussieren sich die Saucējas-Sängerinnen unter Leitung von Iveta Tāle auf oral überliefertes Material, aber dessen musikalische Raffinesse steht der komponierten Musik aus Lettland in keiner Weise nach. Ja, für westliche Ohren klingt das alles oft schon ganz schön „abgefahren“ und bleibt doch fröhlich und zugänglich dabei. Typisches Merkmal sind die Reibungen im Sekundabstand. Aber die Mehrstimmigkeit wird manchmal noch abenteuerlicher, etwa, wenn eine polytonale Stimmvielfalt aufkommt, an der auch Strawinsky viel Spaß gehabt hätte.
Ein anderer kultureller Botschafter Lettlands ist Valdis Muktupāvels, der bei einer sehr kommunikativen Matinee im Künstleratelier von Otto Niemeyer mit leisen Tönen, aber fundierten Hintergrundinformationen große Überzeugungskraft entfaltete. Wie er die Kokle, eine Art Zither zu spielen weiß, kann man nur als spektakulär bezeichnen. Mit Plektrum, aber manchmal auch mit filigranem Fingerpicking erzeugt sein Spiel diese zarten Texturen, die manchmal an Minimal Music erinnern, oft barock-polyphon strukturiert sind, aber in jedem Moment faszinierend eigenwillig bleiben. Mal greift sein Spiel klangmalerisch das harmonische Zufallsgewoge der Kirchenglocken in einer lettischen Stadt auf. Auch musiziert er auf Bagpipes. Manchmal reicht sogar ein Stück Birkenrinde. Muktupāvels Gesang legt weitere Verbindungslinien offen: Seine Exkurse in den Obertongesang verweisen direkt nach Mittelasien. Wenn sich Musik wirklich um nichts schert, dann sind das ideologische oder politische Grenzen.
Konzert geht mit Diskurs einher auf Usedom. Wie hat sich Musikgeschichte in den jeweiligen Gastländern abgespielt und welche großen Komponisten spielten entscheidende Rollen? Solchen Themen widmet sich alljährlich ein prominent besetztes Abend-Symposium. Wenn von der lettischen Hauptstadt Riga die Rede ist, rückt schnell der Name Richard Wagner in den Fokus. Dieser wirkte vorübergehend in Lettlands Hauptstadt – was prägend genug war, dass hieraus erste Konzepte für sein späteres Bayreuther Operntheater entstanden. Der Usedomer „Wagner-Salon“ in einem Konferenz-Saal des Steigenberger Hotels in Heringsdorf thematisierte die kulturelle Wirklichkeit dieses Ortes heute, der – unter anderem ausgestattet mit reichlich Förderung auch aus Deutschland – zu einem neuen Kulturort für die Zukunft ertüchtigt werden soll, in dem etwa die Kremerata Baltica eine Heimat finden soll. Die u.a. eingeladene Katharina Wagner, Intendantin der Bayreuther Festspiele und Urenkel des Komponisten, äußerte ihre eigene Vision, was Riga heute braucht: Eben keinen Erinnerungsort, sondern eine lebendige Kulturstädte für die Zukunft. Sie selbst hat ja auch schon eigene Erfahrungen in Lettland gemacht, wo sie sich über die hohe Publikumsauslastung bei Opernaufführungen freut. Erfreuliche Beobachtung am Rande: In Riga füllt deutlich mehr junges Publikum die Ränge.
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Dream Stories and Singing Revolution –
Latvia was the main topic at the 30th Usedom Music Festival
The autumnal atmosphere on Usedom at the end of September and beginning of October provides the perfect backdrop to experience autumn in all its splendor. The sun bathes the horizon in deep morning red as it rises, and the sea is surprisingly calm this year. In the emerging twilight, the windows of the small villages and towns on the island light up, creating a cozy scene that frames the expanse of the coast. These settings offer the perfect background to immerse oneself in the diverse facets of the 30th Usedom Music Festival.
The festival emphasizes engagement with the culture of a selected guest country, with the focus this year on Latvia. Latvian music culture, a blend of tradition and modernity, provides an expanded perspective and can make a political statement even in times of global tension. The young Latvian jazz quintet “Dream Teller” delivered an impressive performance, showcasing the vibrant elements of Latvia’s contemporary music scene.
Particular emphasis was placed on the societal significance of singing as a politically influential force in the Baltic countries, known as the “Singing Revolution”. An impressive conductor and choir leader, Ints Teterovskis, illustrated the power and expressive capabilities inherent in the music and the trained voices of the choir. The performances compellingly demonstrated that culture should not remain silent when it comes to humanity.
Other cultural ambassadors of Latvia, such as the vocal ensemble Saucējas and Valdis Muktupāvels with his virtuoso play of the kokle, contributed to the diversity and intensity of the festival. The Usedom festival not only offered concerts but also discussions about the music history of the guest countries and significant composers, like Richard Wagner, who temporarily worked in Riga. The event highlighted the cultural reality and future prospects of this location, aiming to create a vibrant cultural hub for future generations.Regenerate